Seit mein Sohn bei Berlin lebt, gehören lange Zugfahrten zu meinem Alltag. Und nein, die Reiserei als solche stresst mich nicht. Man darf mir auf einer hochfrequentierten Langstreckenfahrt ohne schlechtes Gewissen Verspätungen reinbremsen, Menschen auf den Schoss stapeln, mich stehend in eine Ecke stellen oder meinetwegen zusammenklappen und auf die Kofferablage quetschen. Ich habe nur einen einzigen Anspruch: dass man mich in Ruhe lesen lässt. Nein, fuhr ich meine Sitznachbarin also kürzlich innerlich an, eben nicht wie eine Verrückte mit verlängerten Acrylnägeln aufs Handydisplay klackern. Nicht jetzt, wo der Serienmörder in meinem Krimi gerade durch das Zielfernrohr die Schläfe
seines Opfers anvisiert und ganz langsam den Finger auf den Abzug legt. Meine Nerven liegen schon ohne dieses nervöse Klimpern blank! Nicht besser wurde es, als das Kind vor mir mit einem Handygame ruhiggestellt wurde. Das Klingeln beim Punktesammeln raubte mir - stellvertretend für die Protagonistin, die sich in dem Moment ahnungslos mit dem Killer im Bett vergnügte - schlagartig die Lust am gefährlichen Liebesspiel. Ich machte ein Eselsohr, klappte das Buch zu und stellte mir die Grundsatzfrage: Wie lange wird es mir noch möglich sein, unter Menschen, die über den regulären Plauderpegel hinaus akustisch aktiv sind, zu lesen? Wird es Bücherwürmer wie mich in Zügen bald nicht mehr geben, weil wir es nervlich schlicht nicht mehr aushalten? Weil der Homo Sapiens zwar mit elektronischen Geräten verschmelzen, nie aber gleichzeitig Lärm absorbieren und konzentriert einer Geschichte folgen können wird? Wird das Zuglesen denen vorbehalten sein, die Noise-Cancelling-Kopfhörer tragen? Im Gegensatz zu mir, der Airpods ständig aus den sonderbar geschwungenen Gehörgängen spicken und Over-Ear-Kopfhörer die Ohren vakuumieren, bis die Hirnmasse beidseitig abzufliessen droht. Nach dem Umstieg in Hannover opferte ich meinen reservierten Platz, um im Ruheabteil neben einen offensichtlich alten Herrn zu sitzen. Jemanden, der sich von der ungedämpften Nutzung von Mobiltelefonen ebenso in die Enge getrieben fühlt wie ich. Dachte ich. Als ich mich gerade wieder auf den neusten Stand der Ermittlungen gebracht hatte, zückte der Senior jedoch sein Handy und spielte in voller Lautstärke eine Doku ab. Ich sags jetzt mal so: Ich war sehr nahe dran, die nächste Passage so richtig laut zu lesen. Menschen wie ich waren vor dir da, mann! Aber ich will mit meinem Lesen sicher keinen stören.