«Fragt sich, wie schlimm eine tiefe Stimmbeteiligung wirklich ist»

«Fragt sich, wie schlimm eine tiefe Stimmbeteiligung wirklich ist»
An Urnenabstimmungen beteiligen sich mehr Leute als an Gemeindeversammlungen. / Bild: Silvia Wullschläger (sws)
Grosshöchstetten: Initianten wollen, dass alle Geschäfte nur noch an der Urne entschieden werden. Das hätte aber auch Nachteile, findet Politikwissenschaftler Hans-Peter Schaub.

Die Freie Wählergruppe Grosshöchstetten, die Unterschriften sammelt, argumentiert unter anderem mit der Stimmbeteiligung: An einer Gemeindeversammlung betrage diese maximal 5 Prozent, an der Urne 30. Das leuchtet doch ein, Herr Schaub?

Es ist eine Tatsache, dass die Beteiligung an der Urne um ein Vielfaches höher ist als an einer Gemeindeversammlung (GV). Für viele ist diese Zahl der wichtigste Gradmesser: Je höher die Beteiligung, desto mehr Legitimität hat ein Entscheid, so die Überlegung. Doch es stellt sich die Frage, wie schlimm eine niedrige Stimmbeteiligung tatsächlich ist.


Wie meinen Sie das?

Wichtiger als die Anzahl der Beteiligten ist die Ausgewogenheit. Also nicht die Frage, wie viele abstimmen, sondern wer. Wenn 20 Prozent entscheiden, es sich dabei aber zum Beispiel vorwiegend um gutverdienende Männer handelt, dann ist das problematischer als eine tiefere, aber ausgewogenere Stimmbeteiligung.


Welche Bevölkerungsschichten gehen eher an die Urne, welche an eine GV?

Ältere Stimmberechtigte sind bei beiden Abstimmungsformen übervertreten. An der Urne kommen insbesondere höher gebildete und gut verdienende Personen dazu. An den GVs wiederum sind Männer und Altein-gesessene übervertreten. Ein Problem ist dieses Ungleichgewicht vor allem dann, wenn der Entscheid nicht der Mehrheitsmeinung entspricht.


Genau das ist doch der Fall, wenn drei, vier Prozent der Bevölkerung entscheiden, wie es laufen soll!

Nicht unbedingt. In einigen Kantonen gibt es die Möglichkeit, gegen einen GV-Entscheid das fakultative Referendum zu ergreifen und das Geschäft so an die Urne zu bringen. Dieses Mittel wird extrem selten genutzt. Und wenn, werden die getroffenen Entscheide der GV nur in etwa der Hälfte der Fälle umgestossen. Das zeigt, dass auch ein kleiner Teil der Bevölkerung die Mehrheitsmeinung abbilden kann.


Aber nicht allen Leuten ist es möglich, eine Gemeindeversammlung zu besuchen. Etwa Eltern von kleinen Kindern und Leute, die abends arbeiten oder gesundheitliche Probleme haben.

Das ist tatsächlich ein Problem, wenn ein Teil der Stimmberechtigten nicht mitmachen kann. Vor allem, wenn es immer dieselben Bevölkerungsgruppen betrifft. Das lässt sich vermindern, indem eine GV an unterschiedlichen Wochentagen und Uhrzeiten stattfindet, etwa auch mal an einem Samstagnachmittag. Und indem die Daten früh bekannt sind. Aber in diesem Punkt ist die briefliche Abstimmung dem Versammlungssystem auf jeden Fall überlegen. 


Was spricht denn
überhaupt für die GV?

Der grösste Vorteil ist, dass an einer Gemeindeversammlung alle mitreden und Anträge stellen können. Man braucht kein Geld und kein Netzwerk, um alle Abstimmenden mit seinen Argumenten zu erreichen. Eine Versammlung kommt in diesem Punkt dem Versprechen der Demokratie näher, dass alle die gleichen Einflussmöglichkeiten haben sollen. Die Versammlungsdemokratie stärkt auch den Bürgersinn. «Ich bin Teil von denen, die entscheiden, auf meine Stimme kommt es an.» Dieses Gefühl kann die Urne weniger vermitteln.


Den Austausch zwischen Bevölkerung und Behörden wollen die Initianten mit Infoveranstaltungen sicherstellen. 

Das ist besser als nichts, aber man muss realistisch sein: Orientierungsversammlungen sind in der Praxis wohl oft eher ein Vehikel für die Behörden, um ihre Sichtweise zu vertreten, und weniger ein Forum der kontroversen Auseinandersetzung. Jedenfalls dürften sie von noch viel weniger Leuten besucht werden als eine Gemeindeversammlung. Wenn es nichts zu entscheiden gibt, ist eine Teilnahme für viele nicht attraktiv. Auch verbindliche Anträge von Bürgerinnen und Bürgern sind hier nicht möglich.


Anträge seien nicht mehr praxistauglich und würden nur selten genutzt, entgegnen die Initianten.

Natürlich wirkt dieser Vorteil nur, wenn er auch gelebt wird. Es braucht Leute, die sich informieren und einen Antrag vorbereiten. In Gemeinden, in denen eine Diskussionskultur herrscht und ein starker gesellschaftlicher Zusammenhalt besteht, funktioniert das besser als dort, wo man sich nicht so gut kennt und sich weniger mit der Gemeinde identifiziert. Zum Beispiel in einer klassischen Pendlergemeinde kann die Urne – oder aber ein Parlament – deshalb tatsächlich das bessere System sein. Aber auch dieses System braucht einige Voraussetzungen, damit es gut funktioniert.


Was denn?

Das Wichtigste ist, dass es mehrere Parteien gibt, die in der Lage sind, Abstimmungskämpfe zu führen. Nur so werden Geschäfte wirklich kontrovers diskutiert.

16.05.2024 :: Silvia Wullschläger (sws)