Reto Invernizzi (links) und Schreiner Ueli Blaser an der künftigen Réception. / Bild: Markus Zahno (maz)
Schangnau: Praktisch auf den Tag genau ein Jahr nach dem Unwetter wird nächste Woche das Kemmeriboden-Bad wiedereröffnet. Gegenüber früher hat sich einiges verändert. Ein Rundgang.
Wenn Reto Invernizzi eine Führung durch das Kemmeriboden-Bad macht, wird er alle fünf Minuten angesprochen. Oder noch häufiger. Hier hat ein Handwerker eine Frage, dort gibt es noch ein kleines Problem zu lösen. Es wird gebohrt, gefräst, geschliffen. 60 bis 80 Leute arbeiten täglich auf der Baustelle; Baufachleute ebenso wie Hotel-Mitarbeitende, die alles vorbereiten für die Wiedereröffnung.
Am 4. Juli 2022 wurde das Kemmeriboden-Bad von einem folgenschweren Hochwasser erfasst. 1,80 Meter hoch stand das Wasser in den Innenräumen, das Erdgeschoss des traditionsreichen Gasthauses wurde zerstört. Doch Reto und Alexandra Invernizzi, die den Betrieb in der sechsten Generation führen, gaben nicht auf. Sie nahmen den Wiederaufbau in die Hand. Und am kommenden Montag, 3. Juli 2023, wird der Betrieb offiziell wieder gestartet.
Der Anfangspunkt
Die Führung beginnt in Manhattan. Nein, nicht im Stadtbezirk von New York, sondern im eingeschossigen Neubau zwischen dem Kemmeriboden-Hauptgebäude und dem einstigen Käsespeicher. «Mein Vater hatte den Zwischenbau bereits 1994 geplant und ihm den Namen Manhattan gegeben», erzählt Invernizzi. Im vergangenen Herbst ist der Vater verstorben. Der Sohn suchte die verschollen geglaubten Pläne, und hat sie tatsächlich gefunden. «Das war ein Zeichen, diesen Bau jetzt zu realisieren.»
Das neue Gebäude wird als Empfangsbereich für die Hotelgäste dienen. Réception, Lobby, Bar und ein Lädeli für regionale Produkte werden hier eingerichtet. Die Frontseite der Réceptions-Theke besteht aus einem alten Holz-Ornament aus der Zeit von 1880 bis 1900, das früher ein Teil der Aussenfassade war. Einer der Schreiner, die mit dem Innenausbau der Réception beschäftigt sind, ist Ueli Blaser. «Zu ihm gibt es eine ganz besondere Geschichte», sagt Reto Invernizzi. «Die erzähle ich Ihnen später.» Blaser lacht.
Das Mahnmal
Zuerst geht der Rundgang weiter zum «Merängge-Tresor». Das bekannte Schaumgebäck, das in der Stein-Bäckerei hergestellt wird, erhält im Kemmeriboden-Bad einen eigenen Verkaufsraum. In stilvollen Gestellen werden die Merängge anmächelig präsentiert. Temperatur und Luftfeuchtigkeit sind exakt so eingestellt, dass es für die Lagerung am besten ist.
Nebenan, in der Gaststube, steht neu ein mächtiger Holztisch aus alten Balken. «Das sind die Originalbalken, die auf dem Boden verlegt waren und das Haus trugen», erklärt Invernizzi. Sie mussten nach dem Hochwasser ausgebaut werden und dienen nun als «Unwettertisch». Dieser soll ein Mahnmal sein, aber auch ein Ort, an dem die Menschen miteinander ins Gespräch kommen. So, wie früher am Stammtisch.
«Kommen Sie», sagt der Kemmeriboden-Chef und führt in den Bädlisaal. Wie in den anderen Räumen des Erdgeschosses sei die Decke hier das einzige, das aus der Zeit vor dem Unwetter erhalten geblieben ist. Sonst ist alles neu – auch die Eckbank. Hier erzählt Reto Invernizzi nun die Geschichte von Ueli Blaser, dem Schreiner, der im Oberfrittenbach auch einen Bauernbetrieb führt. Vor drei Jahren fällte er daheim eine mächtige Eiche. Er lagerte das Holz ein und wartete auf eine Gelegenheit, um aus der Eiche etwas ganz Spezielles zu machen. Das konnte er hier tun.
Die Mitarbeitenden
Wenn er auf das Unwetter und die Zeit danach zurückblicke, empfinde er eine tiefe Dankbarkeit, sagt Reto Invernizzi. Er sei dankbar, dass an jenem 4. Juli 2022 keine Menschen zu Schaden kamen; alle Gäste und Mitarbeitenden konnten rechtzeitig in die oberen Stockwerke evakuiert werden. Er sei aber auch dankbar für die Unterstützung beim Wiederaufbau. «Die Solidarität war riesig.» Dank ihr könne der 1834 gegründete Betrieb weiterbestehen – im Gegensatz zu vielen anderen Traditionsbetrieben, die in letzter Zeit aufgeben mussten.
Künftig wird das Hotel Kemmeriboden-Bad sieben Tage pro Woche geöffnet sein. Die Doppel- und Familienzimmer bieten insgesamt 80 Gästen Platz. Für Nicht-Hotelgäste ist das Kemmeriboden-Bad neu von Donnerstag bis Sonntag offen. Der Betrieb zählt insgesamt 70 Mitarbeitende, die sich 50 Vollzeitstellen teilen. 90 Prozent der Mitarbeitenden waren bereits vor dem Unwetter hier beschäftigt. In den vergangenen zwölf Monaten halfen sie beim Wiederaufbau oder arbeiteten vorübergehend in anderen Betrieben. Nun kehren sie zurück.
Die Zukunft
Letzte Station des Rundgangs ist die Küche. Auch sie ist komplett neu – und bereits in Betrieb. Ein halbes Dutzend Leute schneiden Gemüse, dünsten es an, rühren in fein duftender Sauce. Zubereitet wird das Essen einerseits für jene, die auf der Baustelle arbeiten. Andererseits finden vor der Eröffnung immer wieder Testläufe statt. Büetzer, Angehörige der Mitarbeitenden, Gemeindebehörden, der Frauenverein: Sie alle waren bereits im alten, neuen Kemmeriboden-Bad eingeladen.
«Das Unwetter war eine Grenzerfahrung», sagt Reto Invernizzi beim Kaffee in der Gartenwirtschaft. Zehn Millionen Franken wurden in den Wiederaufbau investiert, wie viel die Versicherung zahlt, ist noch offen. «Doch die Katastrophe hat nicht nur das Haus verändert, sondern auch uns.» Er habe sich überlegt, was wichtig sei im Leben, habe sich für seine Familie mehr Zeit genommen, sagt Invernizzi. Bald darauf steht der nächste Handwerker neben ihm. Und hat eine Frage.