«Ui, ist das klein!» – Mit einer Brille, die eine starke Kurzsichtigkeit simuliert, kaufte Martin Benteli ein. / Bild: Remo Reist (rrz)
Langnau: Die Stiftung BWO hat zusammen mit Coop Ilfiscenter eine Aktion durchgeführt: Durch Selbsterfahrung wurde die Kundschaft für das Thema Beeinträchtigung sensibilisiert.
An einem Nachmittag im Coop Langnau: Heinz Röthlisberger und Rudolf Balsiger warten auf ihre Einsätze. Sie sind geistig beeinträchtigt und seit Jahren im Atelier und der Werkstatt ADW der Stiftung BWO tätig. Mit Freude empfangen sie den ganzen Nachmittag zufällig ausgewählte Leute, denen sie mit einem simulierten Handicap nach Wahl beim Einkaufen helfen dürfen.
Seit Jahren aktiv unterwegs
Die Stiftung BWO sucht den steten Kontakt mit der Welt ausserhalb der Institution. «Heute wollen wir der Bevölkerung zeigen, wie das Leben für Mitmenschen mit Behinderungen ist. Und wir wollen Leute mit und ohne Handicap zusammen in Kontakt bringen», sagt Cornelia Widmer-Graf, Co-Bereichsleiterin Wohnen und Atelier. Diese permanenten kleinen Schritte seien wichtig, um die Inklusion voranzutreiben. Die Menschen in Langnau und der Umgebung seien offen, man fühle sich willkommen, betont sie. «Dies kommt daher, dass wir seit Jahren aktiv unterwegs sind und am Dorfleben teilnehmen.» Die Teilhabe dieser Menschen am öffentlichen Leben sei essenziell, «damit Berührungspunkte entstehen», ist sie überzeugt.
Plötzlich stark kurzsichtig
Martin Benteli, Pfarrer in Lauperswil, wagt sich ohne Bedenkzeit ans Experiment. Er zieht eine Spezialbrille an, die eine starke Kurzsichtigkeit simuliert. Es gilt, die Tomaten zu finden, die Artikelnummer zu entziffern, sie bei der Waage einzutippen, den Zettel auf das Papiersäckchen zu kleben und den Einkaufskorb wieder zu finden. Er sagt, bei diesen Routineschritten fühle er sich recht hilflos. Man merkt wenig davon, Martin Benteli bleibt ruhig und bittet, falls nötig, jemanden um Hilfe. Dem schwer lesbaren Einkaufszettel entnimmt er, dass auch Spaghetti benötigt werden. Er findet sie weit hinten, zuunterst im Regal. «Der Weg dorthin ist lang», bemerkt er. An der Kasse unterstützt ihn die Kassierin vorbildlich. Sein Fazit: «Es ist keine Freude, sich so im öffentlichen Raum bewegen zu müssen. Die Situation war anstrengend.» Das Erlebte sei aber wertvoll und die diffusen Berührungsängste würden sich dadurch verringern.
Teil der nationalen Aktionstage
Diese breit angelegte Informations- und Sensibilisierungskampagne hat als Teil der nationalen Aktionstage Behindertenrechte erstmals schweizweit stattgefunden. Man will dadurch ein Zeichen setzen für Gleichstellung, Teilhabe und Zugänglichkeit aller Menschen. Die Aktionstage bewegten sich bewusst auf der gesellschaftlichen Ebene. Widmer-Graf sagt: «Wir wollen auch Menschen ansprechen, die im Alltag keine Berührungspunkte zum Thema haben.»
Am Infostand zeigt sie den Interessierten, wie Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung ein eigenständiger Einkauf ermöglicht wird – mit Kärtchen, speziellen Apps oder weiteren Hilfsmitteln. Sie hebt hervor: «Im Coop Ilfiscenter begegnet man uns offen und hilfsbereit, ebenso in verschiedenen Restaurants und bei Detaillisten in Langnau und der Umgebung.» Menschen mit Unterstützungsbedarf könnten sich zum Beispiel im Coop Ilfiscenter am Kiosk melden und sie würden dann bei ihrem Einkauf unterstützt, sagt sie.
Ab in den Rollstuhl
Auch Eva Brenzikofer aus Langnau ist bereit fürs Experiment. Sie nimmt im Rollstuhl Platz und bemerkt sogleich, dass ihr die beschwerliche Anreise erspart geblieben sei. «Alles ist beängstigend hoch, ich nehme alles ganz anders wahr.» Zudem sei sie froh, dass ihr Rudolf Balsiger beim anstrengenden Vorwärtskommen helfe. Sie habe tausend Sachen im Kopf und fühle sich recht hilflos. «Ich werde plötzlich mit Situationen konfrontiert, die mir gar nicht bewusst gewesen sind, die Umstellung ist riesig», sagt sie. «Leute in dieser Situation haben meine Bewunderung verdient!»
Inklusion als gesellschaftliche Pflicht
Nochmals zu Cornelia Widmer-Graf. Sie sagt: «Die UNO-Behindertenrechtskonvention verlangt, dass Barrieren abgebaut werden, so dass alle Menschen am gesellschaftlichen Leben ungehindert teilhaben können.»
Keine Berührungsängste haben Heinz Röthlisberger und Rudolf Balsiger. Es fühlt sich an, als würden sie etwa jede zweite Person kennen – herzliche Gespräche folgen. Die beiden Männer zeigen eindrücklich, wie sie trotz Beeinträchtigung Kontakte pflegen.