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Komm und sieh!

Bern, Donnerstag nach fünf Uhr, Feierabend. Im Nünitram drängen sich die Menschen.
Ein junger Mann sitzt auf seinem Platz, Kopfhörer über der Mütze. In der Nähe steht eine Gruppe älterer Passagiere. Ab und zu fällt ein missbilligender Blick auf den jungen Mann. Dieser sollte doch aufstehen und seinen Sitzplatz freigeben. Hat man ihm das nicht beigebracht? Aber heutige Eltern erziehen ihre Kinder halt modern. Da haben solche grundlegenden Verhaltensregeln keinen Platz.

Das Tram fährt weiter. Kurz vor der nächsten Haltestelle steht der junge Mann langsam auf, ergreift seine Krücken und
humpelt auf seinen Beinprothesen aus dem Tram.

Betretene Blicke, peinliches Schweigen!

Betanien am Jordan, zirka 30 n.Chr. Philippus kommt auf seinen Freund Natanael zugerannt. Atemlos berichtet er ihm: «Wir haben ihn gefunden, den, von dem Mose und die Propheten geschrieben haben! Jesus aus Nazaret!» «Kann aus Nazaret etwas Gutes kommen?», fragt Nathanael skeptisch (Johannesevangelium 1,46). Diese kleine Ortschaft gehörte zu Galiläa. Diese nördliche Provinz war insgesamt etwas anrüchig.
Israeliten nannten sie «Distrikt der Ungläubigen», weil das Gebiet auf drei Seiten von fremden Völkern umgeben war. Philippus antwortet nur: «Komm und sieh!»

Vorurteile haben immer eine Geschichte. Oft sind es schmerzliche Erfahrungen, die uns hindern, etwas anderes zu erwarten als das, was wir ja schon wussten. Diese Erfahrungen klein­zureden, hilft nicht, sie gehören zu uns, sie haben uns vorsichtig oder gar misstrauisch gemacht. Andere Vorurteile kommen aus zweiter Hand, sie werden unbesehen weitergegeben, manchmal durch Propaganda verstärkt.
Erlebnisse hingegen wie neulich im Tram oder vor langer Zeit am Jordan können solche Vorurteile aufbrechen. Komm und sieh! Es muss nicht immer so sein, wie du denkst. Lassen wir uns überraschen vom Leben, immer wieder!

11.07.2024 :: Kathrin Schneider (skw)