Das Grauen vor dem Grau

«Mama, mit grauen Haaren würdest du toll aussehen. Lass doch mal das Färben.» In regelmässigen Abständen muss ich mir das von meiner Tochter anhören. Jedes Mal, wenn ich zu meiner Friseurin gehe, überlege ich, diesen töchterlichen Wunsch umzusetzen. Letzte Woche zermarterte ich mir das Hirn, ob ich mich in ein Grautier verwandeln soll. Dann fragte ich meinen Partner: «Was würdest du sagen, wenn ich mit kurzem Grauhaar heimkäme?» Sein gelassener Blick ermutigte mich, als er sagte: «Das wäre auch mal schön.» Also gut. Ich entschied mich, es zu wagen. Doch in der Nacht vor meinem Termin machte ich kaum die Augen zu. Gedanken wie: Dann siehst du zehn Jahre älter aus. Dann gehörst du zu den alten Frauen. Dann sage ich ohne Worte: Hallöchen, ich bin eine alte Frau. Die letzte Haarfarbe vor dem Sarg - solche Bilder tanzten Ringelpiez in meinem Kopf. Morgens nahm ich Abstand von dem irrsinnigen Plan, mich äusserlich älter zu machen, als ich innerlich bin. Dann las ich auch noch, dass Brünette als intelligent eingeschätzt werden, während Blonden und Schwarzhaarigen nicht so viel zugetraut würde. Grauhaarige kamen in dem Text nicht vor – sie standen quasi nicht zur Debatte. Zudem haben Harvard-Forscher ermittelt, dass übermässiger Stress vorzeitig ergrauen lässt. Dann beschäftigte mich die Frage, ob ich mich mit Silberhaar überhaupt noch im Spiegel erkennen würde. Ein paar Stunden später war wieder Schokobraun auf dem Kopf und ich fühlte mich grossartig. Dieses «graue Haare» ist bei mir dermassen negativ besetzt, dass es mir graut. Dabei finde ich viele Frauen mit dieser Haartracht schön. Doch Redewendungen wie «darüber lasse ich mir keine grauen Haare wachsen» implizieren ja schon, dass es ein schlechtes Zeichen ist, grau zu werden. In der Schule hat mich als 14-Jährige die brutale Ballade «Die Füsse im Feuer» von Conrad Ferdinand Meyer schockiert. Von Hugenottenjagd hatte ich keine Ahnung, aber die Stelle, als der Schlossherr über Nacht vor Kummer ergraute, ist mir noch sehr präsent. Diese Haarfarbe freiwillig herbeizuführen, erscheint mir wahnsinnig. Denn ich habe keinen Kummer und so will ich auch aussehen. Übrigens finde ich es lächerlich, wenn sich Männer die Haare färben. Kann frau solche Männer ernst nehmen? Diese Typen sind doch einfach zu schwach, um in Würde zu altern. Aber wie geht das als Frau? Männer mit grauen Schläfen gelten als interessant – und Frauen? Ich bin ja mal gespannt, welche Gedanken mich vor dem nächsten Termin bei Silvia nachts wachhalten.

29.08.2024 :: Christina Burghagen (cbs)