Im Zusammenspiel von Wild und Wald

Im Zusammenspiel von Wild und Wald
«Es ist unglaublich, was sich hier entwickelt hat.» Jagdinspektorin Nicole Imesch in einer Windwurffläche. / Bild: Bruno Zürcher (zue)
Linden: Sie ist seit Februar Jagdinspektorin des Kantons Bern: Nicole Imesch. Auf die Pirsch geht die Jägerin heuer nicht – dafür auf einen Spaziergang durch den Wald.

Der viele Regen der letzten Tage hat dafür gesorgt, dass sich der Toppwald oberhalb von Linden frisch und eher kühl präsentiert. Die Schritte federn auf dem Boden. Wir kommen zu einem Stück Wald, in dem der Sturm Burglind Anfang 2018 etliche Bäume umgeworfen hat. Heute fallen die mit Moos überwachsenen Weisstannengerippe auf. Nicole Imesch hatte sich damals – sie hat das Büro Wildkosmos betrieben und war beim Bundesamt für Umwelt tätig –  dafür eingesetzt, dass die Fläche möglichst unberührt bleibt und das Holz nicht abgeführt wird. Einzig die Fichten seien entfernt worden, damit sich nicht Borkenkäfer explosionsartig vermehrten, fügt sie an. «Es ist unglaublich, was sich hier entwickelt hat», hält Nicole Imesch staunend fest. Der Wald werde nun sich selbst überlassen, bis die vom Sturm geworfenen Bäume verrottet seien. Dann wird wieder Holz geerntet. «Dafür habe ich Verständnis, schliesslich handelt es sich um einen gut erschlossenen Wald.» Eine Grup­pe Pilzler streift durch den lichten Wald; ihre Körbe werden kaum leer bleiben. Jägerinnen und Jäger indes sind keine unterwegs; heute ist kein Jagdtag.


Kein Patent gelöst

Nicole Imesch ist passionierte Jägerin. «Heuer habe ich aber kein Patent gelöst», sagt die Jagdinspektorin. Sie ist erst seit Februar dieses Jahres im Amt. Vieles sei neu und ihre Agenda gut gefüllt. Oft reihe sich Sitzung an Sitzung. «Deshalb habe ich mich, in Absprache mit der Familie, entschieden, heuer auf die Jagd zu verzichten», meint die 48-Jährige und fügt mit einem Lachen an: «Aber mit einer Gästekarte werde ich sicher mal unterwegs sein.» Indirekt beteiligt ist Nicole Imesch an der laufenden Jagd schon. Schliesslich gehört die Jagd­planung zu den zentralen Aufgaben der Jagdinspektorin. Das Thema birgt Zündstoff, etwa wegen der Schäden, die das Wild an Wäldern verursacht.


Rot markierte Wälder

Laut dem Wildschadengutachten des Kantons Bern wurden in einigen Gebieten untragbare Schäden registriert. Viele dieser rot markierten Wälder sind im oberen Emmental zu finden, wie auch in der Region Linden – also auch in dem Wald, in dem wir uns befinden. Besonders betroffen sind kleine Weisstannen, deren Triebe von Rehen oder Gämsen abgefressen werden. Hirsche hingegen können auch mal einen grösseren Baum so stark entrinden, dass dieser abstirbt. Auch wenn wir in diesem Stück Wald junge, vitale Weisstannen erkennen können, sind doch Schäden sichtbar. «Diese hier wurde immer wieder verbissen», erklärt Nicole Imesch. Zwei, drei, viermal hat Wild die Triebspitze des Baumes abgefressen, immer wieder hat er damit reagiert, dass sich ein Ast aufgerichtet hat, um eine neue Spitze zu bilden. «Vielleicht kommt er durch», meint die Jagdinspektorin. «Aber eine schöne Tanne wird daraus sicher nicht mehr.» Sie könne die Waldbesitzer gut verstehen, dass sie sich Sorgen um die Verjüngung ihrer Wälder machten.


Wählerische Rehe 

Also mehr Wild erlegen? «Die Populationsgrösse hat unbestritten einen Einfluss auf die Wildschäden», hält die Jagdinspektorin fest. Daher sei es wichtig, die jagdplanerischen Ziele zu erreichen; etwa, wenn der Bestand gesenkt werden solle. In diesem Waldstück gibt es viel Licht. Die jungen Bäume können rasch wachsen und für das Wild hat es mehr Alternativen für die Äsung, wie die Nahrungsaufnahme in der Weidmannssprache genannt wird. Was fressen Rehe denn am liebsten? «Sie sind sehr wählerisch», weiss die Biologin. Kräuter, Gräser, Knospen von Büschen und Bäumen, aber auch Brombeeren. «Sie treten auch gerne aus und grasen auf den Wiesen. Daher ist es besser, wenn die Waldränder stufig ausgestaltet sind. Sie bieten mehr Äsung und Deckung, wenn Gefahr droht.» Gefahr droht dem Wild nur in wenigen Fällen von natürlichen Feinden. «Im Berner Oberland lebt eine verhältnismässig hohe Anzahl Luchse. Das hat einen spürbaren Einfluss auf die Rehe. Hier im Toppwald ist dieser Einfluss deutlich kleiner.»


Rasante Moutainbikes

Andere Störungen hätten sehr wohl einen Einfluss auf das Wild und damit auch auf die Schäden, die es verursacht. «Beispielsweise Mountainbiker, die rasant durch den Wald kurven. Das Wild erschrickt und flüchtet. Das braucht Energie, die dann wieder aufgenommen werden muss.» In letzter Zeit seien immer wieder Gesuche für neue Bikerouten eingereicht worden, berichtet die Jagdinspektorin weiter. «In rot markierten Gebieten mit grossen Wildschäden spreche ich mich daher gegen neue Biketrails aus.» Mountainbikes sind an diesem Nachmittag im Toppwald keine unterwegs. Auch Wild erblicken wir keines. Dabei leben hier viele Rehe. Und seit einigen Jahren tauchen immer mehr Rothirsche auf. «Ich war selber in den Vorjahren auf der Hirschjagd in der Honegg, das ist nicht weit von hier», erklärt sie und deutet Richtung Osten. «Weil die Rothirsche viel mobiler sind, ist die Jagd aufwändiger als etwa beim standorttreuen Reh.» 

Das Rotwild ist die Wildart, die in letzter Zeit die markanteste Entwicklung erlebt hat. Während es vor 20 Jahren ein seltenes Erlebnis war, einen Hirsch beobachten zu können, leben heute rund 3000  Tiere im Kanton Bern. «Für den Wildraum 10, in dem wir uns hier befinden, hatte das Ziel der Jagdplanung bisher gegolten, die Population wachsen zu lassen», erklärt Nicole Imesch. «Nun wollen wir den Bestand stabilisieren. Im Oberland wollen wir ihn gar senken. Daher müssen mehr und vor allem weibliche Hirsche erlegt werden. Das hat einen viel höheren Einfluss auf die Zuwachszahlen, als wenn man die Stiere reduziert.»


Erfolgreiche Jägerschaft

Der Rothirsch war für die Jägerschaft vom 1. bis 20. September «offen». Die zweite Jagdperiode hat am 12. Oktober begonnen. Wie lautet die Zwischenbilanz der Jagdinspektorin? «Ich bin sehr zufrieden. Es wurden bereits rund 800 Rothirsche erlegt.» Die bernische Jagdplanung sieht dieses Jahr knapp 1100 erlegte Tiere vor. Auch die Spezialmassnahmen hätten sich bewährt. Was ist damit gemeint? «In der ersten Woche war die Kategorie der Stiere nicht offen.» Wegen der schönen Trophäen sind sie bei den Jägern besonders beliebt. «Das Ziel war, den Überraschungseffekt der ersten Jagdtage für den Abschuss von weiblichen Tieren zu nutzen.» Die Zusammenarbeit mit der Jägerschaft klappt demnach gut? «Absolut. Das liegt sicher auch daran, dass ich nicht nur Biologin, sondern auch Jägerin bin», sagt Nicole Imesch, die schweizweit eine von nur zwei Frauen in diesem Amt ist. «Ich wurde gut aufgenommen und die Aufgabe ist sehr spannend.»

17.10.2024 :: Bruno Zürcher (zue)