Wenn ich Glück habe, befinde ich mich aktuell ungefähr in der Mitte meines Lebens. In Zahlen gedacht. Ich richte mich aber lieber nach den Worten des Schweizer Psychiaters Carl Gustav Jung, der Gerüchten zufolge gesagt haben soll, dass ich quasi jetzt erst auf die Welt komme. Die Zeit vor Vierzig sei Recherche und dann gehe das Leben so richtig los. Ich nehme an, das ist es, was viele meinen, wenn sie vom magischen Alter zwischen 40 und 50 sprechen. Wenn sie beschreiben, wie sich auf einmal ungeahnte Perspektiven eröffnen, wie sie sich neu erfinden und ihre Tage als lustvoller denn je empfinden. Weil sie wissen, was sie nie mehr wollen: toxische Beziehungen beispielsweise, Überstunden, unbequeme Hotelbetten, einschneidende Hosen, schlechten Kaffee oder sich über Cellulite nerven. Auch bei mir haben 45 Jahre Recherche so manche Erkenntnis hervorgebracht. Allem voran möchte ich mich meiner wertvollen Restzeit nicht mehr berauben lassen. Ich warte noch maximal zehn Minuten auf Entscheidungsfaule, dann regle ich die Dinge im Alleingang. Ich werde nie mehr Stunden an einem Tisch voller Menschen ausharren, an dem absolut nichts Persönliches entsteht. Auch nicht aus Höflichkeit. Ich umgebe mich nicht mehr mit Leuten, die in allem nur das Negative sehen und nicht über ihren Schatten springen können, wenn es darum geht, alte Geschichten zu bereinigen. Ich mühe mich nicht mehr in Krafträumen ab und ich tue nicht mehr so, als würde ich Gesellschaftsspielen irgendetwas abgewinnen können. Und ich will mich ganz sicher nicht mehr mit anderen Eltern über ergonomische Schulrucksäcke unterhalten, nur weil sonst eine peinliche Stille entsteht. Vor allem aber will ich niemandem mehr erklären müssen, warum ich das alles nicht mehr will. Wow, man kann sich so richtig schön reinsteigern, in das Dinge-nicht-mehr-Wollen, merke ich gerade. Doch: Was will ich denn stattdessen? Ich arbeite seit Tagen an einer Liste mit Dingen, die ich mir wünsche. Probieren Sie das mal aus? Der Verstand stellt subito jedem Bedürfnis zehn Gründe entgegen, warum man es hinten anstellen sollte. Sind das die Nachwehen aus der Kindheit, als uns das «I wott, i wott» ausgetrieben worden ist? Oder ist Wollen wirklich immer zu teuer, zu unverschämt, zu unsympathisch und vor allem zu egoistisch? Ich habe nun also 45 Jahre lang recherchiert, um zu wissen, was ich nicht mehr will, und jetzt hab ich Hemmungen, mir zu gönnen, was ich will. Hilfe! Ich hoffe, ich lebe lange genug, um das zu ändern.