«Der Tod bedeutet eine ungeheure Vernichtung von Ressourcen»

«Der Tod bedeutet eine ungeheure Vernichtung von Ressourcen»
Langnau: Der 5. Heimatabend der Regionalbibliothek Langnau führte in die Science-Fiction-Welt von Tom Turtschi. Er las aus seiner Kurzgeschichten-Sammlung «Eniwetok. Die Flucht».

Was ein Heimatabend mit Science-Fiction zu tun hat, erklärte Bibliotheksleiterin Barbara Dürst charmant: «Der Trubschacher Tom Turtschi ist ein einheimischer Künstler und Literat.» Damit erschöpfte sich der Heimatbezug, denn Turtschis Kurzgeschichten schaffen gruselige Szenarien zum Stirnrunzeln. Im Gespräch erfuhren die rund 50 Anwesenden, was Science-Fiction ausmacht. Der Jazz-Gitarrist Dimitri Howald verlieh mit sphärischen Klängen auf der E-Gitarre und Loop-Technik der Lesung eine futuristische Atmosphäre. Gesellschaftliche Utopien seien schon im Mittelalter heraufbeschworen worden, erzählte Turtschi, doch mit «Frankenstein» habe eine Frau das Genre begründet – Mary Shelley schrieb Anfang des 19. Jahrhunderts am Beginn der Industrialisierung über das vom Schweizer Wissenschaftler Viktor Frankenstein geschaffene Monster.



Menschenmaterial als Sklave

Anstatt zu künstlichen Menschen zieht es Tom Turtschi in die Vision, das Potenzial eines Menschenlebens zu bewahren, denn «der Tod bedeutet eine ungeheure Vernichtung von Ressourcen». Ein krebskranker, alternder Mann spricht mit seiner digitalen Assistentin von der Brain-Copy-Corporation, um vor seinem Tod ein Back-up seiner Persönlichkeit auf eine Festplatte zu spielen. Seine letzten drei Monate palliativ zu behandeln, würde enorme Summen verschlingen – die Kosten für eine Transformation dagegen seien gering und das verwandelte Menschenmaterial diene der Gesellschaft als Sklave. Eniwetok, das pazifische Atoll im Buchtitel, steht für Atomwaffentests Mitte des 20. Jahrhunderts und wirft Fragen auf: Sind technische Fortschritte menschliche Rückschritte? Eine Zuhörerin warf ein, Science-Fiction habe für ihren Geschmack zu wenig Gefühl. Tom Turtschi antwortete humorvoll: «Ja, das Paarungsverhalten von Vulkaniern ist nicht romantisch.» In den 13 Kurzgeschichten besucht ein Alien ein Spiesser-Ehepaar, ein Raumfahrer findet im ganzen All nur noch sich selbst, und ein Arzt muss sich die Frage stellen, ob es legitim ist, ein Dutzend Kinder zu opfern, um eine Kolonie zu retten. Einer der erfolgreichsten europäischen Sci-Fi-Autoren, Andreas Eschbach, bekam das Buch in die Finger und meinte: «Ich wollte nur kurz reinschauen, dann wurde es die Lektüre für volle zwei Abende.»



«Eniwetok. Die Flucht», Sci-Fi-Erzählungen, Tom Turtschi, Paperback, 344 Seiten. ISBN-13: 978-3-9524-8261-2, Seins-Fiction Verlag, 18.90 Franken

30.11.2017 :: Christina Burghagen (cbs)