Glück hängt nicht vom Sehvermögen ab

Glück hängt nicht vom Sehvermögen ab
Während ihrer Arbeit trägt Tamara Schär einen Badge mit der Aufschrift: «Mein Sehvermögen ist klein, mein Herz ist gross.» / Bild: Lisa Willener (lwh)
Langnau: Tamara Schär hat trotz ihrer Sehschwäche die Lehre zur Pharma-Assistentin erfolgreich absolviert und stellt sich nun selbstbewusst neuen Herausforderungen.

«Viele Leute haben das Gefühl, wenn man nicht gut oder sogar gar nichts sieht, könne man nicht glücklich sein.» Nach einer kurzen Pause spricht Tamara Schär nachdenklich weiter: «Dann müssten ja alle Leute, die gut sehen, glücklich sein. Die Frage ist: Sind sie es denn wirklich?» 

Die 19-jährige Langnauerin zeigt, dass auch Menschen mit einer Sehschwäche glücklich sein können. Erst kürzlich hat sie erfolgreich die Lehre als Pharma-Assistentin in der Dropa- Drogerie Apotheke in Langnau abgeschlossen.  Dies, obschon sie seit Geburt mit einem sehr schlechten Sehvermögen lebt. «Auf dem linken Auge habe ich noch einen Seh-Rest von drei Prozent, rechts sind es mit der Brille noch rund 20 Prozent.» 

Trotzdem lässt sich die junge Frau nicht einschränken. Noch im selben Atemzug erklärt sie: «Aber ich mache trotzdem eigentlich alles, wie jeder andere auch.» So gehe sie beispielsweise sehr gerne Ski fahren und auch auf dem Velo ist sie unterwegs.


Unterstützung der Eltern

Die Langnauerin ist sich sicher, dass ihre Selbstständigkeit vor allem auch der Erziehung ihrer Eltern anzurechnen sei. «Wenn ein Elternteil fand, dass das bestimmt nicht funktionieren werde, hat es der andere einfach mit mir ausprobiert.» Als Aussenstehender bemerkt man Tamara Schärs Sehschwäche daher nicht sofort. «Das ist eigentlich auch mein Ziel, denn ich will nicht speziell behandelt werden.» Erst im Gespräch mit ihr merkt man, dass ihre Augen hinter der Brille immer leicht in Bewegung sind. 

Schon als kleines Kind war sie nicht in der Lage, Dinge mit ihren Augen zu fokussieren. Deshalb hatten Ärzte ihren Gendefekt überhaupt entdeckt. «Dieser Genfehler hat bei mir Tumore auf der Netzhaut ausgelöst. Als ich drei Monate alt war, wurden diese Tumore zum ersten Mal mit Chemo und Bestrahlung behandelt.» Heute muss sie nur noch einmal jährlich zur Kontrolle. Die Ärzte hätten ihr versichert, dass ihr Sehvermögen nun eigentlich stabil bleiben sollte. Dennoch kann natürlich niemand so genau wissen, was die ferne Zukunft mit sich bringen wird. «Im Alter sehen ja viele Menschen schlechter.»


Hindernisse werden bewältigt

Obschon Tamara Schär sehr selbstständig ist, muss sie manchmal auf die Hilfe und vor allem das Verständnis anderer Leute zählen können. Bis anhin habe sie aber fast nur gute Erfahrungen gemacht. Sie ist überzeugt, dass dies auch mit ihrer offenen Art der Kommunikation zusammenhängt. «Ich kenne nichts anderes, für mich ist das normal.»

Dank der Mithilfe ihrer Lehrer, Klassenkolleginnen und Mitarbeiterinnen fand die Pharma-Assistentin auch während ihrer dreijährigen Lehre immer einen Lösungsweg, wenn sie auf ein Hindernis stiess. Auch anfängliche Schwierigkeiten im Labor der Dropa-Apotheke wurden schlau gelöst. «Ich erhielt ein Vergrösserungssystem auf dem Computer und hatte eine persönliche Lupe.» Sogar andere Messkolben mit einem besseren Kontrastmittel wurden für die aufgeweckte Pharma-Assistentin bestellt. 

Bereits seit ihrer Kindheit wird sie vom ambulanten Dienst der Blindenschule Zollikofen unterstützt. So wurde ihr während ihrer Lehre ein Coach für Lernende zur Seite gestellt.  Die 19-Jährige ist dankbar für diese Hilfe. Ohne ihren persönlichen Coach hätte sicherlich vieles nicht funktioniert oder wäre auf jeden Fall um einiges schwieriger gewesen.  

Andere Dinge wiederum hat sich die Langnauerin selbst beigebracht. «Ich brauche alle Sinne und ich merke mir sehr viel.» Wenn sie sich beispielsweise ein Glas mit Wasser füllt, verlässt sich Tamara Schär nur auf ihr Gehör. Doch nur weil sie Dinge besser hört als andere Menschen, habe sie keine Superkräfte. Sie konzentriere sich einfach viel mehr darauf. «Viele achten sich auch gar nicht auf die anderen Sinne. Es ist einfach das Sehen, das zählt, und die anderen Sinne gehen etwas vergessen.» Wenn sie zum ersten Mal irgendwohin geht, merkt sie sich auch alles Mögliche und findet den Weg zurück dann ohne Probleme wieder. Lachend erklärt Mutter Erika Schär später, dass ihre Tochter dank dieser Fähigkeit auch bei dickstem Nebel normal Ski fahre, währenddem sich sonst kaum jemand noch orientieren könne.


Zukunftspläne

Die nun ausgebildete Pharma-Assistentin hat ihren letzten Arbeitstag bei der Dropa-Apotheke in Langnau bereits absolviert. Nun steht ihr ein neuer Abschnitt bevor. In Zollikofen wird sie die einjährige Berufsmaturität Gesundheit und Soziales absolvieren. Sie freue sich grundsätzlich auf diesen neuen Weg. Gleichzeitig bedeutet dieser Schritt aber auch, dass sie ihrer Tätigkeit in der Dropa nicht mehr nachgehen kann. «Ich werde die Arbeit und das Team sicherlich sehr vermissen.» 

Was danach kommt, weiss die junge Langnauerin noch nicht. «Da werde ich schauen, welche Türen sich noch öffnen werden.»

29.07.2021 :: Lisa Willener (lwh)