Links: Jan Rutishauser schaffte es ins Finale, unter anderem mit seinem Gedicht. Rechts: Gregor Stäheli überzeugte sein Publikum im Finale mit einem Text über Männlichkeit und gewann den Sieger-Whisky. / Bild: x x (x)
«Wieder entdeckt»: Lyrik gibt es schon sehr lange, aber sie erfindet sich immer wieder neu.
Eine Plattform für heutige Dichter sind unter anderem Poetry Slams.
«Regel Nummer eins: Die Texte müssen selbst geschrieben sein.» Peter Heiniger, Mitorganisator und Moderator des Schloss Poetry Slams in Sumiswald, steht auf der Bühne im Rittersaal und erklärt den Zuschauern, worauf es bei diesem Wettkampf ankommt. Für heute Samstag hat er fünf «Slammer und Slammerinnen» eingeladen, die gegeneinander antreten werden. In zwei Runden wird jede und jeder von ihnen insgesamt zwei Texte präsentieren. Dabei muss unter anderem ein Zeitlimit eingehalten werden und es dürfen keine Requisiten zum Einsatz kommen. Welche zwei der Teilnehmenden ins Finale kommen, entscheidet eine spontan zusammengestellte Jury aus dem Publikum. «Wer will die Texte bewerten?», fragt der Moderator in die Runde und verteilt jedem Jurymitglied Nummern zwischen eins und zehn. Die Reihenfolge der Auftritte bestimmt das Los. Ob wohl auch ein lyrischer Text zu hören sein wird?
Minnesänger und Troubadours
Schon in der griechischen Antike kannte man den Begriff Lyrik, der so viel heisst, wie «die zum Spiel der Lyra gehörende Dichtung». Auch im Mittelalter dichteten Minnesänger Verse und begleiteten sich mit Saiteninstrumenten und viel später sorgten die Berner Troubadours und andere Sänger mit ihren Gitarren und eingängigen Liedern für Unterhaltung. Lyrik eignet sich also zum Singen. Auch auf der Bühne im Schloss Sumiswald wären die Wettkämpfer berechtigt, rund die Hälfte des Textes zu singen. Doch davon wird niemand Gebrauch machen.
Schon erscheint mit schwingenden Haaren der Zürcher Etrit Hasler im Scheinwerferlicht und ergreift das Mikrofon. Nein, kein Gedicht trägt der Schnellredner vor, sondern einen autobiografischen Text über seinen ungewöhnlichen Vornamen und über versteckten Rassismus, den er im Alltag erlebe. So höre er als Sohn eines Vaters aus dem Kosovo öfters Sätze wie: «Was, du siehst ja gar nicht wie ein Albaner aus!»
Auch Moët Liechti mit «einem Namen wie eine Champagner-Marke» wählte diesen als Thema und witzelt: «Wenigstens heisse ich nicht Freixenet!», meinte die Slampoetin aus Bern.
Besonders viele Lacher in der ersten Runde bekam Jan Rutishauser aus St. Gallen, der als einziger Kontrahent mit einem lyrischen Gedicht aufwartete. Eines über eine Leidenschaft, die ihn schon ein Leben lang begleitet: das Lesen.
Ebenfalls grossen Anklang fand der aus Basel stammende, selbsternannte Provokateur Gregor Stäheli. Er beklagte sich in seinem Text über einen fiktiven Gesprächspartner aus dem offensichtlich politisch rechten Lager, weil dieser sich trotz Provokationen nicht zu einem verbalen Schlagabtausch hinreissen liess.
Tiefgründiger sinnierte hingegen die Baslerin Fine Degen über die Liebe und Selbstzweifel, die entstehen, wenn eine Beziehung zerbricht.
Statt klassische Gedichte «Instapoesie»
Noch lange nicht kaputt, sondern voll im Saft, ist die Poetry-Slam-Szene, bestätigt Peter Heiniger im späteren Gespräch: «Die meisten von uns sind zwischen 20 und 30 Jahre alt.» Einigen diene diese Plattform als Sprungbrett in eine grosse Karriere, wie etwa Renato Kaiser oder Hazel Brugger. Heiniger selber ist hauptberuflich Lehrer und weiss über den Stellenwert der Lyrik unter den Jugendlichen von heute Bescheid. «Klassische Gedichte sind in der Schule kaum mehr ein Thema», sagt er. Der Erlkönig von Johann Wolfgang von Goethe kennt demnach definitiv nicht mehr jedes Kind. Und doch gibt es einige von ihnen, die gerne mit Worten spielen, indem sie beispielsweise Lieder schreiben. Bei Recherchen im Internet findet sich auch der Begriff Instapoesie. Das sind kurze, selbst geschriebene Gedichte, die auf Instagram oder anderen sozialen Medien weiterverbreitet werden. Gemäss Wikipedia fühlten sich vor allem junge Frauen zwischen 14 und 24 Jahren davon angesprochen und es ist sogar die Rede von einer neuen Hochphase der Lyrik.
Auch Slam Poeten veröffentlichten auf ihren Profilen zuweilen solche Gedichte, weiss Peter Heiniger. Schon kündet er die zweite Runde des Wort-Wettstreites an, und nach fünf weiteren Präsentationen ist klar: Die Finalisten heissen Jan Rutishauser und Gregor Stäheli!
Jetzt geben die beiden alles, denn in der Schlussrunde kommt es darauf an, wer von beiden den lauteren Applaus bekommt.Viele Lacher später dann die Entscheidung: Stäheli ist die heutige Nummer eins und gewinnt nebst Ruhm und Ehre die obligate Flasche Whisky.
Reimen ist aufwändig
Häufig wolle das Publikum vor allem lachen können, hat Peter Heiniger beobachtet. Deshalb kommen kabarettistische Texte und Stand-Up-Comedy oft besonders gut an. Dies erkläre auch, weshalb kaum lyrische Texte zu hören gewesen seien. Der Finalist Jan Rutishauser liefert noch einen anderen Grund, als er auf die Frage antwortet, weshalb er nur ein einziges Gedicht zum Besten gab: «Eine Geschichte so zu verdichten, dass sie sich auch noch reimt, ist für mich viel aufwändiger, als einen normalen Text zu schreiben.»
Dennoch gab und gibt es immer wieder Autorinnen und Autoren, für die genau diese Verdichtung den Reiz ausmacht. Das Spielen mit Worten, manchmal gereimt oder auch nicht, mit oder ohne Musik. Lyrik kennt (fast) keine Grenzen.