Was wäre Schangnau mit See?

Was wäre Schangnau mit See?
Vom Stausee in Schangnau war eine Druckleitung ins Gebiet Sorbach (Eggiwil) geplant, wo die Wasserkraft genutzt werden sollte.
«Grosse Pläne» – Serie (1/4): Vor hundert Jahren wurden mehrere Anläufe genommen, um in Schangnau ein Kraftwerk mit Stausee zu bauen. Realisiert wurde es nie. Deshalb sind die dortigen Bauern heute nicht in der Fischerei tätig.

Um 1900 wurde im Zuge der Elektrifizierung auch im Kanton Bern nach Standorten für Wasserkraftwerke gesucht. In Dokumenten der Genossenschaft Stau- und Kraftwerke Emmenthal ist zu lesen, dass man Langnau nicht mit genügend Strom versorgen könne. Aus diesen Gründen hatten die Gebrüder Sänger, Leinwandfabrikanten, abklären lassen, wo man ein Wasserkraftwerk errichten könnte. Die Gebrüder Sänger dachten an ein Flusskraftwerk im Räbloch. Bei der Naturbrücke sollte das Wasser etwas gestaut werden, um von dort durch einen Kanal bis nach Bächleren zu fliessen, wo sich die Emmeschlucht weitet. Dort war dann die Turbinen- und Dynamo-Anlage geplant. 1899 erteilte die bernische Regierung die Bewilligung für ein Kraftwerk, welche aber bald erlosch, weil neue Gesetze in Kraft traten. 


Stausee als Hochwasserschutz verkauft 

Neun Jahre später zeichnete ein Ingenieurbüro aus Zürich im Auftrag der Genossenschaft Stau- & Kraftwerke Emmental Pläne, welche zwar Ideen der Gebrüder Sänger aufnahmen, diese aber stark erweiterten. Der Genossenschaft gehörten unter anderen die Von-Roll-Eisenwerke Gerlafingen an wie auch die Emmental-Bahn, die Papierfabriken von Utzenstorf und Biberist oder die Giesserei Zolliger Oberburg. 

Die Planer verfolgten ein Stauseeprojekt. Dafür sollte beim Räbloch eine Talsperre gebaut werden. Die Turbinenanlage war bei Sorbach und weiter unten ein Ausgleichsweiher vorgesehen. Die Baukosten wurden auf 6 Millionen Franken berechnet; 1,5 Millionen waren für das Stromnetz vorgesehen, 0,5 Millionen für Bachverbauungen und als einmalige Zahlung 2 Millionen Franken an die Gemeinde Schangnau. Als Entschädigung der landwirtschaftlichen Flächen waren 60 Rappen pro Quadratmeter eingerechnet. Heute wären diese Beträge rund das Zwölffache wert. 

Die Planer dachten bereits an Ausbauschritte: Als erstes solle auch der Sorbach angeschlossen und dann ein weiterer Druckstollen bis nach Aeschau und Schüpbach gebaut werden, «damit man auf eine Ausbeute von rund 10´000 PS kommt». 

Die Planer strichen nebst der Energiegewinnung weitere Vorteile hervor: «In Schangnau wären Hochwasser mit Schadenfolgen Geschichte!» Beim Gesuch an den Regierungsrat war ausdrücklich auf die Verhinderung der Schäden durch Hochwasser in Schangnau hingewiesen worden. Auch würden Gewerbekanäle emmeabwärts durch die kaum schwankende Wassermenge aufgewertet. 

Der Stausee sollte sich von der Räblochschlucht bis zum Heimwesen Beutlerschwand erstrecken und 31,5 Millionen Kubikmeter Wasser fassen. Noch heute ist in der Schangnauer Gemeindeschreiberei der kolorierte Plan zu sehen. Laut der Unterlagen wurden die Pläne angepasst: Statt im Räbloch sollte flussaufwärts (beim Hof Plätteli) eine 70 Meter hohe und rund 150 Meter breite Staumauer gebaut werden. Im Geschäftsbericht von 1911 ist zu lesen, dass man mit dem Kanton Bern über die Verlegung der Staatsstrasse gesprochen habe und dass diese über die Staumauer führen solle.


Erst erbost – dann begeistert?

Wie reagierte Schangnaus Bevölkerung? Gemäss mündlich überlieferter Berichte hätten die betroffenen Bauern ihre Häuser nur noch notdürftig geflickt, weil sie davon ausgegangen seien, den Hof sowieso bald verlassen zu müssen. Es habe eine aufgebrachte Stimmung geherrscht. Im zweiten Geschäftsbericht wurden auch Erfahrungen aus dem Urfthal bei Aachen aufgeführt, wo ein ähnliches Kraftwerk realisiert worden war. Der dortige Verwalter teilte mit, dass der Tourismus dank der Talsperren erheblich zugenommen habe. Zudem hätten die Einheimischen mit der Fischerei angefangen, da sich in den Stauseen innert kurzer Zeit viele Fische angesiedelt hätten. 

Als der Bundesrat 1911 die Konzession erteilte, sei, so der Bericht der Genossenschaft, die Mehrheit der Schangnauer, besonders die Gemeindebehörden, für den Bau des Stausees gewesen. Die Einheimischen hätten als Arbeitskräfte bevorzugt und die Käserei in Schangnau gratis mit Strom versorgt werden sollen. 

Verschiedene Abklärungen verzögerten die Realisation. Zudem waren vor 1914 die Zinsen sehr hoch. Ehe diese sanken, begann der Erste Weltkrieg und das Kraftwerk war vorerst kein Thema mehr. 


Boveri dachte noch viel grösser

1918 hat die von Walter Boveri gegründete Motor AG, Baden, das Projekt wieder aufgenommen und geprüft. Die Firma war der Ansicht, dass in Schangnau ein rund dreimal so grosser Stausee und ein weiterer im Zulgtal gebaut und das Wasser dann Richtung Thunersee geleitet werden solle. Das Gefälle hätte 360 Meter betragen! Dieses Projekt wurde bald wieder schubladisiert, weil das ganze Emmental wegen des abgeleiteten Wassers opponierte. 

Im Protokoll der Genossenschaft von 1924 wird auf die geplanten Oberhasli-Werke hingewiesen, die günstiger Strom produzieren könnten. Die Konzession von 1911 wurde 1926 noch verlängert und erst 1981 gelöscht. Bild: Historisches Lexikon der Gemeinde Schangnau

«Dann hätte ich Boote oder Pedalos verliehen»

Hans-Ulrich Siegenthaler war bis vor
wenigen Jahren Gemeindeschreiber von Schangnau und auch sein Vater, Grossvater und Urgrossvater hatten dieses Amt inne. «Der Stausee war in meiner Amtszeit kein Thema und auch mein Vater erzählte nie etwas davon», sagt er. Das kurz nach 1900 lancierte Projekt ist in der Gemeinde also schon lange passé. «Eigentlich wäre ja alles vorhanden gewesen», meint der alt Gemeindeschreiber weiter. «Das Räbloch zuzuschütten und so die Emme zu stauen, wäre einfach gewesen. Auch stieg die Nachfrage nach Elektrizität, eine Trägerschaft war gegründet und auch die Konzession lag vor.» 

Der Erste Weltkrieg und hohe Zinsen waren offenbar die Hauptgründe, weshalb das Vorhaben dennoch abgebrochen wurde. Auch wenn die Zeiten besser gewesen wären, ist Hans-Ulrich Siegenthaler skeptisch, ob das Projekt am Ende wirklich umgesetzt worden wäre. «Man muss schon sehen, mehr als 20 Bauernfamilien hätten Haus und Hof aufgeben müssen», gibt er zu bedenken. In einem unbewohnten Bergtal lasse sich eher ein solches Vorhaben realisieren. Hinzu komme, dass die Höhendifferenz zum Turbinenstandort nicht sehr gross gewesen wäre und die Energieausbeute entsprechend gering.


«Merängge und heimischer Fisch»  

Wie hätte sich die Gemeinde Schangnau entwickelt, wenn dort sei gut hundert Jahren ein Stausee bestünde? «Dann wäre ich wohl kaum Gemeindeschreiber geworden», sagt Hans-Ulrich Siegenthaler und lacht. «Ich hätte Boote und Pedalos verliehen.» Die Geschäftsidee kommt nicht von ungefähr. Siegenthalers Haus hätte direkten Seeanschluss gehabt. 

«Vielleicht hätte sich Schangnau wirklich touristisch weiterentwickelt und das Kemmeribodenbad wäre nebst der Merängge auch für Gerichte mit heimischem Fisch bekannt», sinniert Siegenthaler weiter. «Konkret lässt sich aber kaum abschätzen, was aus Schangnau geworden wäre, wenn dieses Projekt gebaut worden wäre. 

Die Initianten des Stausees hatten stets betont, dass dank des Bauwerks die Gefahr von Hochwassern gebannt gewesen wäre. Was hält er davon? «Die Gebiete unterhalb der Staumauer hätten sicher profitiert», sagt Hans-Ulrich Siegenthaler. «Aber ich befürchte, dass der Stausee in kurzer Zeit mit Geschiebe gefüllt gewesen wäre und hätte ausgebaggert werden müssen.  

29.12.2022 :: Bruno Zürcher (zue)