«Hoch in der Luft fühlst du dich wie ein König»

«Hoch in der Luft fühlst du dich wie ein König»
Silvan Wüthrich bei einem Start an der Schweizer-Meisterschaft in Disentis.
Gleitschirmfliegen: Der Traum vom Fliegen – Silvan Wüthrich hat ihn sich erfüllt. Letzte Woche startete der Gleitschirm-Pilot aus Langnau an der Schweizer-Meisterschaft.

Schon als Bub hat Silvan Wüthrich oft in den Himmel geschaut und sich gedacht: «Ich möchte fliegen.» Auch das Hobby seines Göttis, das Segelfliegen, hat ihn seit jeher fasziniert. Auf die Konfirmation bekam er dann einen Tandemflug mit einem Gleitschirm geschenkt. Und im Militär wäre er gerne Fallschirm-Aufklärer geworden, scheiterte aber am Rot-Grün-Test. In seiner schier grenzenlosen Enttäuschung ging er nach Hause und googelte: Wie teuer ist es, Gleitschirm zu fliegen? Die Suchresultate machten ihm Mut: 4000 bis 5000 Franken für die Ausrüstung, dazu rund 3000 Franken für die Ausbildung. «So viel hatte ich auf der Seite», erinnert sich Wüth-rich. Ohne zu zögern meldete er sich zum Grundkurs an.

Das war vor zehn Jahren. Mittlerweile ist er 28-jährig und ein gestandener Gleitschirmpilot. Letzte Woche nahm er an der Schweizer-Meisterschaft in Disentis teil. Dort absolvierten die 108 Teilnehmenden jeden Tag eine Aufgabe, einen so genannten «Task». «Es funktioniert ähnlich wie im Orientierungslauf», erklärt Wüth-rich. Man fliegt in einer vorgegebenen Reihenfolge virtuelle Ziele – «Bojen» – an. Wer die Aufgabe am schnellsten meistert, ist Tagessieger. Und wer über die ganze Woche am schnellsten war, ist Schweizer-Meister.


Die Faszination

Die ersten beiden Tage an der Schweizer-Meisterschaft gelangen ihm nicht nach Wunsch. «Ich wählte eine zu offensive Linie», bilanziert Wüthrich, der in Trub aufgewachsen ist und heute in Langnau lebt. Doch je länger die Woche dauerte, desto besser lief es ihm. «Der Freitag war super. Wir hatten tolles Wetter und ich war in einer schnellen Gruppe unterwegs», erzählt er. So flog er in der Sport-Klasse, in der 44 Pilotinnen und Piloten an den Start gingen, auf den 8. Rang. Über die ganze Woche gesehen war er im Mittelfeld und belegte Rang 25.

Doch der Wettkampf steht bei Silvan Wüthrich nicht im Vordergrund. Was ihn am meisten fasziniert – das ist das Gefühl vom Fliegen. Das Gleitschirmfliegen, englisch «Paragliding», habe eine einzigartige Einfachheit, schwärmt er. «Du nimmst deinen Rucksack, gehst auf einen Hügel und schon startest du in die dritte Dimension.» An guten Tagen sind erfahrene Pilotinnen und Piloten bis zu zehn Stunden in der Luft.


Das Können

Wüthrich erklärt ein paar Grundsätze der Thermik. Dann nimmt er sein Smartphone hervor und zeigt eine Karte mit einer Route, die er Mitte Juni flog. Um 9.38 Uhr startete er auf der Marbachegg, flog über den Thunersee und die Berner Alpen ins Wallis, dann hoch über dem Rhonetal in Richtung Frankreich bis zum Mont Blanc und wendete wieder Richtung Schweiz. Dann habe er eine falsche Entscheidung getroffen, berichtet er. So landete er um 16.55 Uhr an einem anderen Ort als geplant: beim Moiry-gletscher im Wallis, weit weg von einem ÖV-Anschluss. Entsprechend kompliziert wurde die Rückreise. Die Strecke, die Wüthrich an diesem Tag in der Luft zurücklegte, ist aber so oder so eindrücklich: über 200 Kilometer in über sieben Stunden Flugzeit. «Wenn du so hoch oben bist und einen so unglaublichen Ausblick hast, kommst du dir vor wie ein König», sagt Silvan Wüthrich, der mit seinem Gleitschirm schon auf 4600 Metern über Meer unterwegs war. Was muss man mitbringen, um so hoch und so weit zu kommen? Es sei ein Mix aus verschiedenen Komponenten, antwortet der Langnauer. «Natürlich musst du das Wetter verstehen und die Thermik lesen können.» Dieses Wissen wird auch an der Brevet-Prüfung abgefragt, welche die Pilotinnen und Piloten ablegen. Ebenso wichtig seien aber die eigene Flugerfahrung, der Austausch mit anderen Piloten, das Bauchgefühl und der Mut, alleine Entscheidungen zu treffen.


Das Risiko

«Das sportliche Feedback im Gleitschirmfliegen ist brutal ehrlich», sagt Silvan Wüthrich. «Wenn es dir nicht läuft, kannst du weder einem Schiedsrichter noch einem Trainer oder sonst jemandem die Schuld geben.» Und das Wetter sei so, wie es sei. «Entscheidend ist, es richtig einzuschätzen.» Doch jeder Mensch macht gelegentlich Fehler. Wenn Paragliding-­Piloten sich oder die Situation falsch einschätzen, kann es gefährlich werden. Diese Erfahrung hat auch Wüthrich bereits gemacht. «Einmal war ich zu übermütig. Ich flog nahe am Boden, hatte dadurch wenig Sicherheitsmarge – und prallte hart in ein Schneefeld», erzählt er. Dabei brach er sich den Oberschenkel. «Aber wie gesagt: Es war mein Fehler. Grundsätzlich passiert beim Gleitschirmfliegen wenig.» Kein Vergleich zu Ex­tremsportarten wie Basejumping, wo das Risiko ein Vielfaches höher sei.


Die Natur

Vorübergehend hat Wüthrich das Gleitschirmfliegen auch ein paar Monate lang als Beruf ausgeübt, arbeitete im Berner Oberland bei einer Firma, die kommerziell Tandemflüge anbietet. Wenn er angefragt wird, macht er auch heute noch einen Tandemflug. Ansonsten soll Paragliding für ihn aber eine Freizeitbeschäftigung bleiben, ein Hobby wie das Bergsteigen, das Klettern und das Skifahren. «Ich bin einfach gerne in der Natur», sagt er. Hauptberuflich arbeitet Silvan Wüthrich als Prozess- und Projektinge­nieur in Schachen LU bei einer Firma, die Klebefolien und -bänder für die Baubranche produziert. In seinem Beruf sei er mit ganz unterschiedlichen Aufgaben konfrontiert und müsse möglichst gute Lösungen finden, erklärt er. «Genau wie beim Gleitschirmfliegen»

17.08.2023 :: Markus Zahno (maz)