Die Braillezeile ist ein Computer-Ausgabegerät, das Zeichen in Brailleschrift darstellt. Daniela Moser kann mit ihren Fingerkuppen die Zeichen abtasten. / Bild: Remo Reist (rrz)
Walkringen: Der blinde Franzose Louis Braille erfand vor 200 Jahren die Brailleschrift. Sie ist auch heute noch unverzichtbar. Zum Beispiel für Daniela Moser.
«Dank der Brailleschrift und weiteren Hilfsmitteln kann ich meinen Job grösstenteils selbstständig im ersten Arbeitsmarkt ausüben», sagt Daniela Moser. Die Walkringerin lebt mit geringer Sehkraft, die Brille trägt sie zum Schutz. Sie arbeitet seit 2012 als Interessenvertreterin beim Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) in Bern. Die ausgebildete Kauffrau hat die Berufsmatur absolviert und leitet drei nationale Dossiers zu den Themen Einkaufen, Medikamente und Finanzdienstleistungen. Anlässlich des 200-Jahr-Jubiläums der Brailleschrift spricht sie auch über die positiven Auswirkungen der Digitalisierung.
Jede Sprache kann abgebildet werden
Anders als die Schwarzschrift, wie die Schrift für Sehende bezeichnet wird, ist die Brailleschrift durchgängig logisch; sie funktioniert binär, wie ein Computer. Daniela Moser erklärt: «Mit nur sechs Punkten, in zwei senkrechten Reihen zu je drei Punkten angeordnet, kann sie 64 verschiedene Zeichen darstellen, die in logische Gruppen unterteilt sind.» Die Schrift werde weltweit genutzt, auch im Arabischen, Chinesischen oder Russischen. «Der Einsatz geht sogar noch weiter. Auch für Musik, Mathematik, Schach und sogar Stickereien gibt es Braille.» Den internationalen Durchbruch erlebte Louis Braille nicht (siehe Kasten). «Erst zwei Jahre vor seinem Tod wurde die hoch effiziente Schrift zum Unterrichtsgegenstand an französischen Schulen», erzählt Daniela Moser.
Brailleschrift auf dem Handy
Es seien viele andere Schriften getestet worden, zum Beispiel die Reliefschrift. Aber die Brailleschrift bleibe bis heute unerreicht. «Viele Informationen müssen wir taktil, also mit den Händen, aufnehmen. So entstehen plastische Bilder und der Gegenstand entsteht vor unserem geistigen Auge», erklärt Moser. Weil alles so logisch aufgebaut sei, sei auch die Braille-Schreibmaschine früh erfunden worden. «Heute ist es so, dass es auf dem iPhone schon im Betriebssystem die Möglichkeit gibt, auf eine virtuelle Braille-Tastatur zu wechseln. Diese bildet die Tastatur einer Braille-Schreibmaschine ab. Die so getippten Nachrichten werden dann vom Handy in Schwarzschrift übersetzt.» Als die ersten PCs auf den Markt kamen, seien sie auch sehr schnell für blinde Menschen nutzbar gewesen. «Viele Blinde konnten schon effizient mit PCs arbeiten, als die sehenden Mitarbeitenden noch lange an der Schreibmaschine sassen», weiss die Walkringerin. Heute könnten Screenreader (Bildschirm-Leseprogramme) und Apps mit Texterkennung zwar viel, etwa jeden digitalen Text vorlesen. Dank künstlicher Intelligenz könnten auch immer mehr Texte des Alltags wie Verpackungen oder Türklingeln entziffert werden. Dennoch sei ihnen Braille in vielen Bereichen überlegen. Darum werde auch das SBV-Magazin «Augenblick» nach wie vor in Brailleschrift gedruckt.
Kampf für Gleichstellung und Inklusion
«Viele Blinde beschriften im Haushalt ihre Gewürze, Lebensmittel oder Kleider mit Braille, auch bei Lifttasttasturen, Schildern an Bahnperron oder Haltestellen finden sich blinde Menschen gut zurecht», so die Erfahrung von Daniela Moser Sie fahre ab Walkringen mit dem Postauto über Worb nach Bern zur Arbeit. «Der Bahnhof Konolfingen wurde erst vor einiger Zeit barrierefrei gebaut. Vorher musste man die Gleise noch überqueren, was ein heikles Unterfangen war. Der öffentliche Verkehr ist noch weit von der vollen Barrierefreiheit entfernt, obwohl die 20-jährige Umsetzungsfrist des Behindertengleichstellungsgesetzes Ende 2023 abgelaufen ist.» Von einem barrierefreien ÖV würden alle profitieren - nebst Menschen mit Behinderungen auch ältere Menschen oder Familien mit Kinderwagen, betont Moser. Zurück zum digitalen Alltag. «Auch hier gibt es weiterhin etliche Barrieren. Recherchiert man nach einem Artikel, bekommt man es oft mit schlecht oder gar nicht zugänglichen Websites oder PDF-Dokumenten zu tun», sagt Daniela Moser. Die Tools, um Dokumente zugänglicher zu machen, seien aber zahlreich, erschwinglich und einfach geworden. «Im digitalen Raum für Barrierefreiheit zu sorgen, ist einer der Schritte, die wir gehen müssen, um Gleichstellung und Inklusion zu erreichen. Es war noch nie einfacher, diesen Schritt zu gehen.» Die Digitalisierung biete blinden Menschen unfassbar viele Chancen und den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt. Trotzdem: «Wir sind immer noch am Kämpfen dafür, dass die Barrierefreiheit von Anfang an integriert wird. Es gibt immer noch viel Aufklärungsbedarf.»
Immer noch Berührungsängste
Es seien überwiegend kleine und mittlere Betriebe bereit, erfahrene Mitarbeitende mit stark abnehmender Sehkraft weiter zu beschäftigen. Der Kostenfaktor sei generell kein Argument, «denn die IV bezahlt die Hilfsmittel». Noch heute seien Berührungsängste allgegenwärtig, die Hemmschwelle sei gross. «Man traut uns oft nicht zu, den Computer zu bedienen, oft folgt ein ungläubiger Aha-Effekt. Blinde Menschen sind vollwertige Mitarbeitende und keine Geschöpfe, die bemitleidet werden müssen», sagt Daniela Moser bestimmt und unmissverständlich. Der SBV suche ständig neue Firmen, die wahres Interesse zeigen. «Schön ist, wenn sie sich nicht bloss als Wohltäter sehen oder das Engagement einfach für die Förderung des Images vorsehen».