Werner Ryser mit einer Zuhörerin, die aus ihrer Familie Beatrice Keck ähnliche Geschichten kennt. / Bild: Beatrice Keck (keb)
Langnau: Käser und Bauern wanderten im 19. Jahrhundert nach Georgien aus. Autor Werner Ryser verarbeitete diesen wenig bekannten Aspekt der Geschichte in einer Familiensaga.
Gegen 100 Interessierte folgten gebannt den Ausführungen von Werner Ryser. Er las in der Regionalbibliothek Langnau aus dem vierten Band seiner Familiensaga vor. Dieser vierte Band trägt den Titel «Windhauch, das ist alles Windhauch». Zwischendurch ergänzte er sein Vorlesen mit persönlichen Gedanken und Bezügen zum aktuellen Weltgeschehen.
Die Auswanderungsgeschichte von Simon Diepoldswil begann 1866. Mit 18 Jahren wanderte der um sein Erbe betrogene Langnauer mausarm nach Georgien aus. Der russische Zar Alexander I., der Käse liebte, unterstützte diese Auswanderung mit verschiedenen Erleichterungen. In Georgien siedelte Simon sich bei der Stadt Katharinenfeld südlich der Hauptstadt Tiflis an. Auch viele deutsche Familien hatten hier in Grusinien, wie die Russen Georgien nannten, eine neue Heimat gefunden. Zusammen mit Sophie gründete Simon eine Familie. Drei Kinder kamen aus dieser Ehe hervor: Karl, Hannes und Jakob. Als Simon im Jahr 1918 starb, hinterliess er seinem Sohn Hannes, der Landwirt geworden war, einen Gutshof mit mehr als 1000 Tieren.
Zurück in die Schweiz
Simon hatte sich seinen Traum erfüllt; er hatte ein Geschlecht von angesehenen Bauern gegründet. Sein Sohn Karl war Arzt geworden, und Jakob, der Musiker, war früh verstorben. 1921 besetzte die Rote Armee Georgien und der Name von Katharinenfeld wurde – zum Gedenken an Rosa Luxemburg – in Luxemburg umgeändert. Zu dieser Zeit begannen auch in Georgien die Kollektivierungen. Das heisst: Die Bauern und Handwerker wurden enteignet und ihr Eigentum in Kolchosen zusammengefasst. Von da an mussten die bisher freien Bürger in Zwangskollektiven arbeiten.
Durch die Machtübernahme der Bolschewiki in Transkaukasien verlor auch Simons Familie ihren ganzen Besitz. Es blieb ihr nichts übrig, als zurück in die Schweiz zu reisen. Mehr als einen gefüllten Koffer durften sie nicht mitnehmen. Dabei ging es ihnen noch besser als den deutschen Auswanderern; diese wurden nach Sibirien deportiert. Viele von ihnen verloren dort ihr Leben.
Die Geschichte wiederholt sich
Werner Ryser beschreibt feinfühlig, was mit seinen Protagonisten geschieht und was sie erleben. So schildert er eindrücklich, wie die Schweizer Auswanderer die Deportation ihrer deutschen Freunde und Nachbarn mit ansehen müssen. Am Tag, nachdem er 2022 diese Szene geschrieben hatte, erfuhr Ryser vom Einmarsch der Russen in die Ukraine. «Die Geschichte wiederholt sich und alles ist flüchtig, alles ist Windhauch», sinnierte er. Die beklemmende Parallele zu aktuellen Ereignissen liess die Anwesenden schweigen.