Error compiling Razor Template (contact the administrator for more details)

«Hinter jedem Dossier steht ein Schicksal»

«Hinter jedem Dossier steht ein Schicksal»
Rea Wyser scheut keinen Aufwand, um möglichst viele Akten zu finden. / Bild: Silvia Wullschläger (sws)
Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen können ihre Akten suchen lassen. Rea Wyser vom Staatsarchiv des Kantons Bern hat schon hunderte Recherchen gemacht. Mit teils erschütternden Erkenntnissen.

«Kommt oft schmutzig und abgerissen daher» – «ist ein fertiges Minus» – «ihre grös-ste ‹Stärke› ist das Bettnässen». Das sind einige Aussagen, wie sie Rea Wyser bei ihrer täglichen Arbeit immer wieder begegnen.
In ihrem Büro befinden sich hunderte von Akten in farbigen Mäppchen. Manche sind mehrere Zentimeter dick, andere enthalten nur wenige Blätter. Jedes Dossier gehört zu einem Menschen, der von den Behörden an eine Familie verdingt oder in einem Heim versorgt wurde. Rea Wyser koordiniert die Aktensuche im Berner Staatsarchiv und hat schon hunderte Recherchen getätigt. Bisher hätten sie Dossiers von über 2200 Personen zusammengetragen; in den Spitzenjahren 2017 und 2018 seien je 700 bis 800 Anfragen eingegangen. Nun habe sich die Zahl bei jährlich 80 bis 90 eingependelt. «Wir erhalten zunehmend auch Anfragen von Kindern oder Enkelkindern von Betroffenen, die verstorben sind», stellt die wissenschaftliche Mitarbeiterin fest. «Diesen können wir aus Kapazitätsgründen jedoch nur in eingeschränktem Masse bei der Aktensuche helfen.»


Der gesetzliche Auftrag

Das Staatsarchiv hat ein einfaches Formular entwickelt, auf dem alles notiert werden kann, was bekannt ist. «Manche können recht detaillierte Fakten liefern, andere haben nur vage Angaben», sagt Rea Wyser.
Je mehr Anhaltspunkte sie erhält, desto schneller geht die Suche häufig. Denn sie kann nicht einfach ins Archiv steigen und die Akten hervorholen. Im Staatsarchiv lagern lediglich die Unterlagen von kantonalen Stellen wie Jugendamt, staatlichen Erziehungsheimen oder Regierungsstatthalterämtern. Viele Akten, etwa jene der Vormundschaftsbehörden, befinden sich in den Gemeinden. Deshalb ist es von Vorteil, wenn die Betroffenen wissen, in welcher Gemeinde sie vor der Fremdplatzierung wohnten. Dort klopft Rea Wyser dann als erstes an. Zu Beginn sei sie nicht überall auf offene Türen gestossen, denn der Aufwand, alte Gemeinderatsprotokolle zu durchforsten, sei beträchtlich. Doch gemäss «Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981» haben Betroffene das Recht auf «einfachen und kostenlosen Zugang zu den sie betreffenden Akten». Hie und da mussten die Regierungsstatthalterinnen die Gemeinden an ihre Pflicht erinnern. Inzwischen klappe die Zusammenarbeit aber gut, betont Wyser.


Die aufwändige Detektivarbeit

Im Schnitt betrage der Rechercheaufwand für die Mitarbeitenden des Staatsarchivs pro Dossier etwa 14 Stunden, hat Rea Wyser ermittelt. Zuweilen sei es aber deutlich mehr. Es gebe Fälle, da sei es auf den ersten Blick aussichtslos, etwas zu finden, weil kaum Angaben vorhanden seien. Doch so schnell gibt sie nicht auf. «Manchmal muss man einen Fall von hinten aufrollen und sich dann Schritt für Schritt herantasten.» Ein Scheidungsurteil, ein Antrag auf den Entzug der elterlichen Gewalt, ein Aufnahmeformular eines Heims, eine von der Fürsorgebehörde bewilligte Zahnbehandlung, alles kann weiterhelfen. «Manchmal fühle ich mich schon wie eine Detektivin», sagt Wyser. «Es ist eine aufwändige Arbeit für eine gute Sache.» Aber auch eine heikle, denn sie untersteht dem Datenschutzgesetz. Deshalb dürfen persönliche Daten noch lebender Angehöriger nicht weitergegeben werden. Und Namen von Drittpersonen, die noch leben, müssen geschwärzt werden, es sei denn, es sind Amtspersonen wie ein Vormund oder ein Heimleiter. «Für uns ist das manchmal schwierig. Einerseits möchten wir den Betroffenen möglichst viele Informationen geben können, andererseits müssen wir den Datenschutz einhalten», schildert Rea Wyser das Dilemma. Für die Betroffenen sei dies oft nur schwer zu akzeptieren.


Das einseitige Bild

Wer seine Akten suchen lässt, will erfahren und verstehen, was geschehen ist. «Warum kam ich weg von meiner Familie?», diese Frage treibt die meisten um. Die Akten könnten helfen, ein Bild der Verhältnisse damals zu zeichnen, erklärt Wyser. Doch dieses Bild sei unvollständig und einseitig, denn es zeige nur die Sicht der Behörden.  «Die schlimmen Erlebnisse, das Leid werden mit keinem Wort erwähnt. Das ist erschütternd.» Da steht dann, Anneli sei ein braves Meiteli, es gehe ihm gut, aber nichts von den Schlägen, der harten Arbeit und den Misshandlungen. Viele Berichte sind in einem abfälligen, ja brutalen Ton verfasst. Was schon für Rea Wyser und ihr Team schwer zu ertragen ist, kann den Menschen, um die es geht, den Boden unter den Füssen wegziehen. Deshalb rät sie allen, die Akten nicht alleine zu lesen, sondern eine Vertrauensperson beizuziehen. Noch aus einem anderen Grund ist dies wichtig: Manchmal erfahren Betroffene, dass sie Geschwister oder Halbgeschwister haben, von denen sie nichts wussten. Ein sehr emotionaler Moment. Da ist man froh, nicht alleine zu sein.

«Was ich las, war ein Protokoll meines Lebens, kalt und gefühllos verfasst»

«Dass es Akten von mir gibt, wusste ich, denn der Vormund hatte jeweils zwei Ordner auf dem Tisch», erzählt Andreas Neugebauer. Mit elf Jahren wurde er auf einen Bauernhof verdingt. Dort erging es ihm nicht gut: harte Arbeit, Schläge, Misshandlungen, psychischer Druck. Wärme erfuhr er nur bei den Schafen. Sieben Jahre war er den Bauersleuten ausgeliefert, dann konnte er, dank der Hilfe des Posthalters, eine Lehre als Brief-träger absolvieren. Nach der Lehre folgte der Absturz. Sieben Jahre trieb er sich herum. «Ich habe viel Mist gebaut in dieser Zeit», sagt der 59-Jährige rückblickend. «Aber aufgegeben habe ich nicht.» Er kämpfte sich zurück, besuchte weiterführende Schulen und machte Karriere bei der Post. Nach einem Burnout entschied sich Andreas Neugebauer, seine Geschichte aufzuschreiben. Und weil er sich bei Daten und Namen an die Fakten halten wollte, gab er 2018 den Auftrag, seine Akten zu suchen. Als diese bei ihm eintrafen, las er sie einmal durch und legte sie beiseite. Erst als er mit dem Schreiben begann, holte er sie wieder hervor. «Was ich las, war ein Protokoll meines Lebens, kalt und gefühllos verfasst. Es ging nie um mein Wohl.» Die Vormunde, meist sehr jung, meist mit zig Fällen betraut, hätten sich im «professionellen Wegsehen» geübt. Der Junge sei gesund und braun gebrannt, hiess es etwa. Wie hart er tagein, tagaus draussen arbeiten musste, interessierte niemanden. «Ich konnte auch nachlesen, wie viele Hosen ich hatte, aber nirgends stand, wie es mir wirklich ging, wie ich litt.» Auch neue Erkenntnisse gewann Neugebauer. So erfuhr er den Namen und das Geburtsdatum seines leiblichen Vaters, den er nie kennenlernte. Und dass die Mutter ihn hatte abtreiben wollen, es dazu aber zu spät war. Doch es gab auch Positives. Fotos von ihm als Kind, eine Weihnachts-Postkarte, die er, als er noch bei seiner Mutter lebte, an den Vormund schrieb. Gefunden hat er auch Polizeiberichte und Gerichtsurteile aus seinen wilden Jahren. «Die Akten zu lesen, war aufwühlend und schmerzhaft. Andererseits aber haben sie auch geholfen, meine Geschichte besser zu rekonstruieren.»

21.12.2023 :: Silvia Wullschläger (sws)