Der lange Schatten

Der lange Schatten
Heute kann Anna Meier wieder lachen. Doch ihren wirklichen Namen will sie nicht nennen, denn sie will mit ihrer traurigen Jugend abschliessen. / Bild: Christina Burghagen (cbs)
«Verdingt – versorgt» (2/6): Einschneidende Erlebnisse in der Kinder- und Jugendzeit prägen Menschen fürs ganze Leben. Anna Meier wurde zum Opfer der übergriffigen Für­sorge des Staates – sie leidet bis zum heutigen Tag daran.

Immer habe sie Dinge im Kopf, die sie noch erledigen müsse, sagt Anna Meier (Name geändert): «Ich nenne das ‹meine Baustellen›.» Sobald sie hört, dass jemand sagt «Man sollte noch?...», möchte sie am liebsten weglaufen. «Den Satz kann ich nicht mehr hören!» Denn schon in ihrer Kindheit wurde die heute 77-Jährige zu viel herumkommandiert und fremdbestimmt. Aber seit 33 Jahren lebt sie nun mit ihrem Part-ner in einer gemütlichen Wohnung. Mitte der 1990er-Jahre erfüllten sich die beiden einen langersehnten Traum. Vom angesparten Trinkgeld der ehemaligen Service-Fachkraft fuhr das Paar durch die USA. Von Herzen mag man ihr das gönnen angesichts der Geschichte, die sie dann erzählt.


Weder Zahnbürste noch Waschlappen

Im Jahr 1946 erblickte Anna Meier das Licht einer Welt, die sich wohl kein Kind so ausgesucht hätte. Zusammen mit einer äl­teren und einer jüngeren Schwester wuchs sie in fatalen Verhältnissen auf. «Es gab weder Zahnbürste noch Waschlappen», erinnert sie sich. Der alkoholkranke Vater bekam entweder Sozialhilfe oder arbeitete als Strassenwischer. Ihre Mutter steuerte Geld aus Arbeiten bei Bauern bei. Gewalt und Elend prägten die frühe Kindheit. Mit drei Jahren kam sie beim Patenonkel unter, wo sie es bis zur zweiten Klasse gut getroffen hatte. Als der auch zu trinken begann, folgten Jahre in Waisenheimen. Als sehr begabtes Mädchen bestand sie die Sek.-Prüfung und durfte wieder nach Hause. 

Kaum daheim, schickte die Gemeinde sie in eine Gärtnerei. «Den ganzen Tag musste ich pikieren, pikieren, pikieren.» Man entschloss sich, dem Mädchen einen Pflegeplatz auf einem Hof zu geben, denn die Verhältnisse in ihrem Elternhaus hatten sich nicht geändert. Bis auf die Schule wurde das Mädchen die ganze Zeit fürs Arbeiten eingespannt: «Eine Waschgelegenheit gab es nicht und für Hausaufgaben war keine Zeit.» Die Gemeinde entschied danach, sie müsse ein Haushaltslehrjahr auf einem anderen Hof absolvieren. Dort übertrug ihr die Hausherrin viele Pflichten mit dem Baby im Haus. Vom Stall ausmisten bis zum Brot backen hielt man sie den ganzen Tag auf Trab: «Ich habe bis heute das Gefühl, dass ich noch etwas zu tun habe.»


Zwangsarbeit und Freiheitsdrang

Als «versorgtes Mädchen» ging es nach der Schule als Fabrikarbeiterin ins Appenzell, wo sie den ganzen Tag Hemden zusammenlegen musste. Im Nähsaal stand in grossen Lettern: «Maul halten! Ordnung halten + durchhalten.» Doch diese Zwangsarbeit förderte vor allem die Sehnsucht nach Freiheit. Eines Tages hauten Anna Meier und ihre Freundin Brigitte ab. Per Autostopp schafften sie es bis nach Paderborn in Deutschland. Dann griff die Polizei sie auf. Zurück in der Fabrik wurden die beiden Mädchen ausserhalb der Arbeitszeiten in ihre Zimmer eingeschlossen und zur Strafe musste sie eine Grube für einen Swimmingpool ausheben. Die Jugendstaatsanwaltschaft schaltete sich ein und die inzwischen 17-Jährige kam ins berüchtigte Mädchenheim Wienerberg nach St. Gallen. Neben Zwangsarbeit waren Gewalt und auch Missbrauch an der Tagesordnung. Mit einer Freundin gelang Anna Meier die Flucht aus dieser Hölle. Die beiden konnten ihre Freiheit jedoch nur kurz geniessen. «Wir kamen zu mir nach Hause. Als sich die Tür öffnete, stand meine ältere Schwester im Brautkleid vor mir.» Der Bräutigam hatte nichts Besseres zu tun, als die Polizei zu rufen.


Gefängnis und Tragödie

Nun schlug die ganze Härte der damaligen Rechtsprechung zu. Denn jetzt wurde die junge Frau ins Frauengefängnis Hindelbank überstellt. Dabei hatte sie ja noch nie in ihrem Leben etwas verbrochen! Nach zwei Jahren wurde sie auf Bewährung freigelassen und arbeitete in einem Restaurant als Serviertochter. Die Begegnung mit einem Mann blieb nicht ohne Folgen. Statt Unterstützung zu erhalten, musste sie nach Hindelbank zurückkehren, denn sie hatte mit ihrer Schwangerschaft die Bewährungsauflagen gebrochen. Hochschwanger musste sie die schwersten Arbeiten in der Gefängnis-Wäscherei leisten. Auf der Toilette stand sie auf einmal in einer Blutlache und unglaubliche Schmerzen setzten ein. Sie wurde ins Frauenspital gefahren. Das Kind wurde tot per Kaiserschnitt geholt – sechs Bluttransfusionen waren notwendig, um die junge Frau wieder ins Leben zu holen.

Danach wurde sie aus dem Gefängnis entlassen und etwas ausserhalb von Bern sei sie einfach «abgestellt» worden: «Ich wusste nicht wohin! So nahmen mich ein paar junge Frauen unter ihre Fittiche und vermittelten mir einen Job als Servicekraft.» In diesem Metier arbeite sich Anna Meier nach und nach hoch.

Aus ihrer Ehe, die später geschieden wurde, entstammt ein Sohn. Lange Zeit war sie «schnell auf der Palme», wie sie es nennt. Andererseits sage sie gerne zu allem Ja und Amen, und sie bereue das nicht selten hinterher. «Ich bin sehr gerne grosszügig, als ob ich das geben will, was ich selbst nicht bekommen habe», analysiert Anna Meier nachdenklich. «Ich wünsche meinem ärgsten Feind nicht, was ich erlebt habe», sagt sie fast tonlos und doch mit Nachdruck. Dabei blickt sie zur Seite.

Heinz Kräuchi bleibt lieber allein

Heute arbeitet er in einem Zentrum für Sozial- und Heilpädagogik und betreut Kinder und Jugendliche in einer Tagesschule. Und durch die eigene Vergangenheit wurde er zum Experten der Heimgeschichte. Immer noch träumt er von den grausamen Erlebnissen, die nach der Scheidung seiner Eltern begannen. Die Mutter bekam zwar das Sorgerecht für ihre Kinder, doch die Behörden in Bern behaupteten, sie sei mit den Kindern überfordert. So wurde ihr Heinz Kräuchi wie seine Geschwister weggenommen – «mit dem klaren Entscheid der Vormundschaftsbehörde», wie er betont.
Kräuchi war auch sieben Jahre lang (1972–1979) im berüchtigten Knabenerziehungsheim «Auf der Grube» in Niederwangen. «Meine Akten konnte ich erst 2013 einsehen. Das war eine Befreiung. Aber die Lügen und Lücken darin machten mich hässig», erzählt der heute 60-Jährige. Sein Vertrauen in Autoritätspersonen wurde total zerstört.

Der berufliche Weg von Heinz Kräuchi begann strauchelnd. Sein Wunsch war eine Ausbildung im Sozialbereich. Doch der Heimleiter der «Grube» habe dies zu verhindern versucht. «Er stellte überall schlechte
Referenzen aus», erzählt Heinz Kräuchi. Gefördert wurden weder seine Intelligenz noch die kreative Begabung. Kräuchi brach die Malerlehre ab und jobbte zum Beispiel als Bademeister, machte eine Ausbildung zum Kundengärtner, bis er die Lehre zum Fachmann Betreuung begann.

Die Dämonen von damals melden sich manchmal schleichend bei ihm: Formalitäten sind ihm ein Gräuel. Vereinsanlässe oder Gottesdienste erträgt er nicht. Doch leere Kirchen und Kapellen liebt er. Auch wohnt Heinz Kräuchi lieber allein. In einer Beziehung zu leben oder Kinder grosszuziehen, kann er sich nicht vorstellen: «Da hätte ich immer das Gefühl, etwas falsch zu machen.»

Viele der heute über 50-jährigen Betroffenen seien in der Kindheit nachhaltig traumatisiert worden und lebten deshalb jetzt noch in prekären Verhältnissen, weiss Heinz Kräuchi. Es prägt fürs ganze Leben, wenn jemand herumgeschubst und ausgenutzt wird. Dieser Elendsspirale ist kaum zu entkommen.

Kräuchi ist heute als Vertreter für Betroffene beim Bundesamt für Justiz und in einem Vorschungsprojekt zur Aufarbeitung Fürsorgerischer Zwangsmassnahmen aktiv und wie andere Betroffene besucht er als Zeitzeuge Schulklassen für deren Geschichtsunterricht. «Die Geschichte darf sich nicht wiederholen», betont er.

29.12.2023 :: Christina Burghagen (cbs)