Wenn plötzlich ganze Hänge ins Rutschen geraten

Wenn plötzlich ganze Hänge ins Rutschen geraten
Noch gut sichtbar: der Erdrutsch zwischen Trubschachen und Steinbach. / Bild: Markus Zahno (maz)
Emmental?/?Entlebuch: Extreme Wetterereignisse häufen sich, die Folgen sind Hochwasser und Erdrutsche. Experte Kurt Graf erklärt das Phänomen – und was winzige Körner damit zu tun haben.

In den letzten Monaten kam es in der Schweiz und umliegenden Alpenländern vermehrt zu Erdrutschen und Hochwassern. Oft wird diskutiert, wer dafür verantwortlich ist. Petrus? Oder tragen doch wir Menschen die Hauptschuld, dass extreme Wetterereignisse immer häufiger auftreten? Das ist die eine Frage. Die andere – und um sie soll es hier gehen – lautet: Wie entstehen solche Ereignisse? Voralpine Gebiete wie das Emmental und Entlebuch werden häufig von Hochwassern heimgesucht. Eine Ursache dafür sind die früher grossflächig erfolgten Abholzungen. Aber natürlich auch die Wetterlage. Meistens liegt ein starkes Tiefdruckgebiet vor, welches Gewitter, Stark- und Dauerregen auslöst. Kommt dann auch noch die Schneeschmelze dazu, kann es besonders prekär werden.


1.50 Meter hoch

Mitte Dezember gab es in zahlreichen voralpinen Tälern Schäden. Ein imposanter Erdrutsch ist zum Beispiel unterhalb des Wanderwegs zwischen Trubschachen und Steinbach zu sehen. Der Abriss erfolgte am Waldrand, wo die schützende Wirkung der Baumwurzeln entfällt. Offenbar hat hier eine Lehmschicht das Bodenwasser gestaut und eine Gleitfläche gebildet. Der nahe gelegene und für seine Hochwasser bekannte Steinbach trägt diesmal keine Schuld am Schadenereignis. In Trubschachen erlebte man eine solche Konstellation bereits im Juni und Juli 2018, ebenso in Bumbach, Lützelflüh und Sumiswald. Im Entlebuch richteten auch die Kleine Emme und die Waldemme mehrmals grosse Schäden durch Schwemmmaterial an. Hochwasseralarm herrschte auch im August 2005, als die Kleine Emme einen Abschnitt der Hauptstrasse in Werthenstein wegriss. Im Stadtzen­trum von Luzern stand das Wasser

damals 1.50 Meter hoch, es mussten 2000 Personen evakuiert werden. Und noch lange in Erinnerung bleiben wird das gewaltige Hochwasser, das im Juli 2022 das Kemmeriboden-Bad überschüttete.


10 Hektaren gross

Fliessgewässer reagieren rasch auf starke Niederschläge. Es gibt aber auch langsamere Folgen: Die Böden werden mit viel Wasser angereichert, sodass ganze Hänge abrutschen. In Zollbrück führte das Hochwasser des Frittenbachs im Juni 2018 zu verheerenden Rutschungen. Zunächst bilden sich jeweils an exponierten Stellen tiefe Risse im Gelände. Bei weiterer Infiltration von Regenwasser öffnen sie sich zu Abrissstellen, von welchen sich Erdmaterial löst und talwärts gleitet. Ein grossflächiger Erdrutsch ereignete sich am vergangenen 13. De­zember in Bramboden?/?Romoos, als unmittelbar unterhalb des Bauernhofs von Familie Koch ein zehn Hektaren grosser Hang in Bewegung geraten war und das Zuhause der Familie Koch zu zerstören drohte. Murgänge sind flächenhafte Abtragungsprozesse, die sehr unterschiedlich gross sein können. In der Regel sind es 1 bis 50 Meter breite Schlammlawinen, die unten mit einer breit gefächerten Ablagerung enden. Charakteristisch ist, dass sich durchfeuchtetes Erdmaterial katastrophenartig über eine lang gezogene Gleitbahn talwärts wälzt und zwei seitliche Wälle aus Steinen und Lehm zurücklässt. Eine solche «Rüfi» hält sich selten an den Lauf eines Baches, sondern sucht sich ihre Bahn meistens selber. Jedenfalls kann der plötzliche Abgang eines Murgangs bedrohliche Ausmasse annehmen und Bauernhöfe oder ganze Dorfteile mit dem transportierten Material meterhoch eindecken.


2 Tausendstel Millimeter klein

Laborversuche zeigen, dass durchfeuchtetes Feinmaterial mit Korngrössen von einigen Tausendstel Millimetern bereits bei mittlerer Hangneigung zu fliessen beginnt. Das feine Bodenmaterial reichert nämlich wesentlich mehr Wasser an als Ton, weil dessen Bestandteile weniger als 2 Tausendstel Millimeter messen und damit auf das Wasser abstossend wirken. Zudem kann das Bodenfliessen durch Erschütterungen ausgelöst werden, etwa durch Güterzüge oder den Überschallknall eines Kampfflugzeugs. Wirkungsvolle Massnahmen bestehen darin, dass man das Bodenwasser oberhalb eines gefährdeten Hangs durch Drainagen wegleitet. Entlang unserer Bäche und Flüsse sind zur weiteren Abhilfe zahlreiche Uferverbauungen erstellt worden, welche die Dörfer und das Kulturland vor Hochwasser schützen.

Starkniederschläge und andere Ex­tremereignisse haben sich in letzter Zeit gehäuft, das lässt sich nicht wegreden. Bereits vor 200 Jahren begannen die Menschen in grossem Stil, Dämme und Querschwellen anzulegen, um den Abfluss der Gewässer zu bremsen. Je nachdem werden auch Kiesfänger oder grössere Rückhaltebecken angelegt, Ablenkdämme gebaut oder sogar Flussläufe umgeleitet. Auch so gilt es, sich auf weitere Schäden gefasst zu machen – und bereits im Voraus Krisenszenarien zu entwerfen.

18.01.2024 :: zvg