Eine lange andauernde Phase der Trauer und Niedergeschlagenheit kann auf eine Depression hindeuten. / Bild: Shutterstock
Kanton Bern: Fast jeder fünfte junge Mensch leidet, zumindest temporär, an einer psychischen Krankheit. Ein Präventionsprogramm will Gegensteuer geben. So auch an der Schule Signau.
«Was wisst ihr noch vom letzten Mal?», fragt Ramona Thöny die 18 Schülerinnen und Schüler der 7. Sekundarklasse Signau. Ein paar Arme gehen zögerlich in die Höhe. «Es ging um Gefühle.» – «Und dass unangenehme Gefühle zum Leben gehören und man sie nicht weghaben kann.» Ramona Thöny, Referentin vom Berner Bündnis gegen Depression, ist zufrieden mit den Antworten. «Heute sprechen wir über Depressionen, was das ist und wie man Hilfe holen kann.» Nun scannen die Kinder mit dem Handy einen QR-Code und schreiben, was sie mit dem Wort Depression verbinden. Am meisten genannt wird Traurigkeit. Aber auch «schlechte Gedanken», «kein Spass», «kein Selbstvertrauen», «kein Plan» sind auf der Grafik zu lesen.
Die Krankheit erkennen
«Schau hin» heisst das Präventionsprogramm für Schulen, welches das Berner Bündnis gegen Depression durchführt (Artikel rechts). «Es basiert auf drei Grundpfeilern», erklärt Michael Kaess am Telefon. Er ist Präsident des Vereins. Der erste Pfeiler sei die Aufklärung und Enttabuisierung. «Die Kinder lernen, was eine Depression ist und wie sie entsteht.» Häufig bleibe die Krankheit bei jungen Menschen unerkannt beziehungsweise werde versteckt. Wenn die Betroffenen realisierten, dass es eine «normale» Krankheit ist, dass auch andere darunter leiden und man etwas dagegen tun kann, entlaste sie das und sie würden eher darüber reden. Nun geht es im Schulzimmer in Signau um die Symptome einer Depression. Diese seien nicht so leicht zu deuten wie bei einer Grippe, sagt Jonathan Dierks, der zweite Referent an diesem Morgen. «Man kann nicht einfach Fieber messen.» Die Depression habe viele Gesichter: die einen würden viel mehr als sonst schlafen oder essen, die anderen viel weniger. Manche weinten häufig, andere verspürten keine Gefühle mehr. Weitere Anzeichen seien Interessenverlust, Freudlosigkeit, Antriebsmangel, niedergeschlagene Stimmung, zählt Dierks auf und fragt die Jugendlichen: «Was ist der Unterschied zwischen einer Stimmung und einem Gefühl?» Die Stimmung sehe man einem an, antwortet eine Schülerin. «Eine Stimmung gehört zu einem und bleibt, ein Gefühl geht wieder weg», ergänzt der Referent. Das zu unterscheiden sei wichtig. Ein schlechter Tag bedeute nicht, dass man depressiv sei. Eine Depression sei ein länger andauernder Zustand, etwa wenn man während zweier Wochen an mehr als der Hälfte der Tage an Symptomen leide. Ein anonymer Selbsttest, den die 18 Kinder ausfüllen, zeigt bei dreien eine hohe Punktzahl an, bei acht die mittlere Kategorie.
Mit negativen Gefühlen umgehen
Der Umgang mit Gefühlen und Problemen ist der zweite Pfeiler des Präventionsprogramms. «Die Kinder erlernen Strategien, wie sie mit negativen Emotionen und mit Konflikten umgehen können», erklärt Michael Kaess. Die meisten psychischen Erkrankungen in der Pubertät würden aufgrund von scheinbar unlösbaren Problemen entstehen, weiss der Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD). Die Jugendlichen hätten noch nicht die Erfahrung gemacht, dass etwa Liebeskummer vorbeigehe. Sie wüssten nicht, wie sich bei Mobbing verhalten und was sie bei Einsamkeit und Leistungsdruck tun könnten. «Sie empfinden ihre Situation als ausweglos und unveränderbar, was zu Depression, Selbstverletzung und Suizid führen kann.» In der anonymen Umfrage in der 7. Klasse in Signau geben 12 Prozent der Schülerinnen und Schüler an, dass sie sich schon einmal absichtlich verletzt hätten. 39 Prozent kreuzen an, schon darüber nachgedacht zu haben.
Rechtzeitig Hilfe suchen
Forschungsergebnisse zeigen, dass bis zu einem Drittel der 14- bis 19-Jährigen in der Schweiz von psychischen Problemen betroffen ist und etwa fünf bis zehn Prozent der jungen Menschen mindestens einen Suizidversuch unternommen hat. Psychische Erkrankung hätten mit der Corona-Pandemie zugenommen, stellt Michael Kaess fest. Diese Dynamik sei bis heute nicht abgeflacht. «Einen grossen Einfluss dürften die Sozialen Medien haben, in denen sich die Jugendlichen seit der Pandemie viel stärker bewegen.» Deshalb sei Prävention wichtig. Je früher eine Depression erkannt und behandelt werde, desto kürzer dauere sie und desto besser seien die Prognosen fürs Erwachsenenleben, betont Kaess. Hier kommt der dritte Pfeiler von «Schau hin» zum Tragen: Hilfe suchen. Die Schülerinnen und Schüler lernen, an wen sie sich wenden können, beispielsweise bei Suizidgedanken. Sie erfahren, wie eine Psychotherapeutin arbeitet. «Die Jugendlichen üben aber auch, wie sie jemanden ansprechen können, wenn sie merken, dass etwas nicht stimmt», ergänzt Michael Kaess. Wenn eine gute Kollegin traurig sei, würde sie mit ihr sprechen, sagt eine der Siebtklässlerinnen in der Pause. Und er wisse jetzt, fügt ihr Klassenkamerad an, worauf er achten könne, um eine Depression zu bemerken.