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Wenn ich an Knödel denke bei Nacht

Es war feucht, kalt und dunkel, als ich in Thun auf den letzten Zug ins Emmental wartete. Der leere Bahnhof machte mir etwas Unbehagen. Auf der Bank, die ich auf dem Perron ansteuerte, machte ich eine Gestalt aus. Scheu blickte mich ein Mann mittleren Alters an: «Nichts los in diesem Thun. In Berlin steppt um diese Zeit der Bär.» Sein Dialekt stammte unverkennbar aus der deutschen Hauptstadt. Als ich erwiderte, «mit Berlin würde ich Thun auch nicht vergleichen», konnte er hören, dass ich eine Landsmännin war. Das ermutigte ihn wohl, mir sein Herz auszuschütten.

Er wohne seit 14 Tagen in Heimberg und wollte heute Abend noch in den Späti (deutscher Ausdruck für Spätkauf), um einzukaufen. Doch selbst der Supermarkt im Bahnhof habe geschlossen! «Wenn ich in Berlin nachts um drei beim Griechen Essen gehen will, dann ist das kein Problem. Hier in Thun bekomme ich ab 22 Uhr nichts mehr», regte er sich auf. Und dann die Preise für eine Zugfahrt, wetterte er. Von Heimberg nach Thun koste es über fünf Franken – für diese kurze Strecke. Mit meinen 15 Jahren Schweiz auf dem Buckel lächelte ich milde. Ich empfahl ihm, so schnell wie möglich ein Halbtax zu kaufen. Ach ja, davon habe er gehört. Schon schimpfte er weiter über die Schweizer Preise: «Das, was ich hier für 200 Franken an Lebensmitteln einkaufe, kostet in Berlin die Hälfte!» Ich wiederholte, er täte gut daran, die Schweiz nicht mit Berlin zu vergleichen.

Als wir im Zug sassen, unterhielten wir uns noch ganz nett. Er heisse Stefan, habe eine Schweizer Mutter und einen deutschen Vater, liess er wissen. Das habe ihn ermutigt, hier eine Arbeit anzunehmen. Als der Mann ausgestiegen war, erinnerte ich mich an meine erste Zeit in der Schweiz. Ich habe anfangs im neuen Land ebenso gemeckert: Es gibt keine Knödel im Päckchen, keinen Schmand, dauernd wird Merci gesagt und an öffentlichen Türen steht «Stossen» statt «Stoßen», und überhaupt sollte da «Drücken» stehen.

Ich glaube ja, dass solch Gemecker dazu beiträgt, dass einwandernde Menschen lernen können. Ausserdem ist es menschlich, sich gegen Veränderungen zu wehren. Neue Umstände können Angst einjagen. Wir machen es uns gerne in unserer kleinen Welt gemütlich, die man modern Komfortzone nennt. Bei Unbekanntem müssen wir Kontrolle abgeben und uns neu einlassen. Das Rumgemecker ist also quasi lautes Pfeifen im dunklen Wald. Aber: Knödel im Päckchen gibt es immer noch nicht! Doof. Und beim Griechen essen gehen, das würde ich sogar gerne tagsüber.

04.07.2024 :: Christina Burghagen (cbs)