«Das Hirn ist das wichtigste Organ»

«Das Hirn ist das wichtigste Organ»
Der Neuro- loge Michael Schüpbach in seiner Praxis in Konolfingen. Daneben ist er auch in Paris tätig. / Bild: zvg
Konolfingen: Der Neurologe, Forscher und Privatdozent Michael Schüpbach ist weltweit gefragt. Dennoch behielt er seinen Lebensmittelpunkt stets im Emmental.

Er ist einer dieser Menschen, deren Erlebnisse und Erfahrungen Bücher füllen würden. Einer, der neues entdecken will und gleichzeitig gerne aus seiner Vergangenheit erzählt. Wie etwa vom Grossvater und Dorfarzt Werner Schüpbach, den er als Kind jeden Sonntag besuchte. «Er war ein Patriarch im besten Sinne und verkörperte das Bild eines Arztes, das ich damals hatte: Einer, der alles wusste, alles konnte und für alle immer ein offenes Ohr hatte.» Ein grosses Vorbild für seinen Enkel. Inter­essant ist auch die Tatsache, dass sein Urgrossvater, Max Schüpbach, um 1900 der erste Arzt war, der die Lokalanästhesie in der Region anwendete und sich damit einen Namen gemacht hat. Das schmerzfreie Zähneziehen lockte so viele Patienten nach Konolfingen, dass sich dort bald der erste Zahnarzt ansiedelte.


Entscheid in letzter Minute

Trotz der Familiengeschichte wäre aus dem jungen Michael fast ein Musikstudent geworden – wenn er sich nicht am letzten Tag noch anders entschieden hätte. Das Medizinstudium sei rückblickend der richtige Entscheid gewesen, ist er überzeugt. Klavierspielen könne er ja als Amateur immer noch.

1995 legte Michael Schüpbach das Staatsexamen ab. Seine Dissertation schrieb er in der Psychosomatik. Gleichzeitig begannen lehrreiche Jahre als Assistenzarzt, in denen oft kaum Zeit zum Essen und Schlafen blieb. «Damals musste man seine Arbeitszeiten dem Betrieb anpassen und nicht umgekehrt.» Einmal habe er es auf 110 Stunden in einer Woche gebracht. Heute liegt die maximale Arbeitszeit für Assistenzärztinnen und -ärzte bei 46 Stunden. Das sei positiv für deren eigene Gesundheit und Konzentration, findet der Neurologe, der unter anderem als Privatdozent Studierende unterrichtet und Kurse gibt. Einen Nachteil habe es jedoch: Assistenzärzte sammelten heute weniger Praxiserfahrung am Patienten im Vergleich zu früher. Dies falle umso mehr ins Gewicht, weil in den letzten Jahren die Bürokratie massiv zugenommen habe. Rund die Hälfte der Arbeitszeit verbringen Mediziner heutzutage vor dem Computer. «Könnte ich die Entscheidungen treffen, würde ich jedem Spitalarzt eine Sekretärin oder einen Sekretär zur Seite stellen», sagt Michael Schüpbach. «Auf diese Weise könnten mehr Patienten pro Arzt behandelt werden, ohne dass es zu höheren Gesundheitskosten kommt», ist er überzeugt.


«Das Spannendste in der Medizin»

Sein eigener Ausbildungsweg führte Schüpbach unter anderem in die Neu­rologie. Ein Gebiet, das ihn bis heute fasziniert: «Das Hirn ist das absolut Spannendste in der Medizin», schwärmt er. Es sei das wichtigste Organ überhaupt, über das sämtliche Funktionen des Körpers laufen: jede Bewegung, jede Emotion, unser Denken und Fühlen, unser ganzes Sein. Oder in den Worten des Arztes: «Der Geist braucht das Hirn, um sich auszudrücken.»

Im Jahr 2003 zog es Michael Schüpbach nach Paris, wo er als klinischer Forscher am Hôpital de la Pitié-Salpêtrière arbeitete. Jahrelang fuhr er sogar zweigleisig, pendelte zwischen der französischen Hauptstadt und Bern hin und her. In der Universitätsklinik für Neurologie am Inselspital Bern war er bis 2017 Oberarzt und Leiter des Zentrums für Bewegungsstörungen und Tiefe Hirnstimulation. Inzwischen leitet der Emmentaler seine eigene Praxis für Neurologie in Konolfingen. Paris muss dennoch nicht ganz auf ihn verzichten: Etwa alle zwei Monate betreibt Schüpbach dort noch eine kleine Sprechstunde für Parkinsonpatienten.

Eigentlich hätte er gleich ganz auswandern können. Zum Beispiel, als ihm eine Stelle als Professor im kanadischen Toronto angeboten wurde – eine grosse Ehre, quasi die Spitze des Olymp. Schliesslich überwog die Verbundenheit mit der Schweiz und dem Emmental und Michael Schüpbach verzichtete auf diesen Karriereschritt. Er wollte seinen Wohnsitz nicht ins Ausland verlegen.


Studie für Parkinson-Medikament

Dafür kommt das nahe Ausland zu ihm. Insbesondere Patienten mit Parkinson nehmen den langen Weg nach Konolfingen in Kauf. Oft geht es um die Frage nach einem Hirnschrittmacher – eine von Schüpbachs Spezialitäten. Mit Hilfe von Elektroden, die direkt ins Hirn eingesetzt werden, können die Patienten ihre Bewegungen besser kontrollieren. Trotzdem: Heilbar ist die Krankheit nicht. Dennoch gibt es einen Silberstreifen am Horizont: Michael Schüpbach testete in den letzten zweieinhalb Jahren als Forschungsleiter ein neues Medikament, das ein Berner Unternehmen entwickelte. Es besteht die Hoffnung, den Verlauf der Krankheit damit zu bremsen oder sogar aufzuhalten, was bisher noch nicht möglich ist. Der Wirkstoff GM1 ist zwar nicht neu und kommt im menschlichen Körper bereits vor. Das Start-up hat jedoch herausgefunden, wie GM1 dem Körper möglichst wirksam als Liposom zugeführt werden kann.

«Es sieht bisher sehr gut aus», berichtet der Arzt zufrieden. Dennoch muss die Wirksamkeit des neuen Medikaments erst noch in weiteren Studien erwiesen werden: Im September beginnt eine Placebo-kontrollierte Studie, bei der die eine Hälfte der Patienten das Medikament, die andere eine gleich aussehende Substanz ohne Wirkstoff bekommt. Nicht einmal Schüpbach wird wissen, wem er was verabreicht. Falls die Resultate in einem Jahr tatsächlich zugunsten des Medikaments ausfallen und es nach weiterer Prüfung zu einer Zulassung kommen sollte, wäre dies ein bedeutender Meilenstein und vor allem wertvoll für die Betroffenen.

15.08.2024 :: Rebekka Schüpbach (srz)