Geschmückte Kuh: Der Überwurfriemen ist mit Dachshaar versehen. / Bild: Beatrice Keck (keb)
Schüpfheim: Tausende haben am Samstag die heimkehrenden Älpler und Älplerinnen und ihre mit viel Herzblut geschmückten Tiere bestaunt – und ihrem
Geläut gelauscht.
Morgens um neun Uhr lag Schüpfheim noch ganz ruhig da. Ein paar vereinzelte Einheimische schlenderten mit ihren Einkaufstaschen durch die ungewohnt leere Hauptstrasse, um bei den bereits geöffneten Verkaufsständen Käse, Brot oder etwas Süsses, hergestellt von Bauernfrauen, zu erstehen. Bloss eine halbe Stunde später war der Dorfkern von vielen Menschen bevölkert. Die Polizei wies die letzten Autos, die noch durchs Dorf fahren wollten, zu den vorgesehenen Parkplätzen. Pius Schmid, Präsident Alpwirtschaftlicher Verein Kanton Luzern, zog sich Regenkleider und seine schweren Wanderschuhe an. Er fahre nun mit dem Velo hinaus zur Klusen Lammschlucht; dort werde er die verschiedenen Älplerfamilien, bevor sie ins Dorf einmarschieren, in Empfang nehmen, erklärt er. Das Servicepersonal in den 26 Beizli und Imbissständen war genauso wie die Polizei und die Sicherheitskräfte positioniert: Schüpfheim war bereit. Schon von weitem hörte man dank der weit tragenden Glockenklänge die erste Älplerfamilie sich dem Dorf nähern. Dieser weit herum hörbare Klang ist auch der Ursprung der Kuhglocken. Früher waren die Alpen noch grösser und vor allem nicht eingezäunt, erklärt Pius Schmid. Schnell könne sich da ein Tier verirren. Dank des Glockenklangs könne es vom Älpler geortet werden. Der Rhythmus des Geläuts gebe zudem Hinweis darüber, ob die Tiere friedlich grasen oder ob Hektik ausgebrochen sei. Und nicht zuletzt folgten die weiter entfernten Kühe dem Klang ihrer Gefährtinnen Richtung Stall.
Glocke, Trychle, Bisse, Schälle
«Glocken, die auch Schälle genannt werden, sind aus einer Bronze-Legierung gegossen», erklärt Schmid weiter. «Während ein Weidschälleli ungefähr ein Kilogramm schwer ist, wiegt eine grosse Glocke gut und gern elf Kilogramm.» Eine Trychle dagegen sei aus Stahlblech gehämmert, geschmiedet oder auch in eine Form gepresst. Jeder Trychlebauer habe seine eigenen Spezialitäten. Durch die Bauweise sei die Trychle wesentlich leichter als eine gleich grosse Glocke. Sie werde deshalb auch für die Alpabfahrt eingesetzt und Fahrtrychle genannt. «Und Achtung», erläutert er weiter, «im Ap-
penzellischen sagt man für Trychle Schälle.» Der Begriff Trychle kommt nur im Südschwarzwald sowie in der deutschsprachigen Schweiz ohne deren Nordosten vor. Seit dem 16. Jahrhundert ist das Wort gut bezeugt. Jede Region
hat aber unterschiedliche Formen von Trychle. So sind die Berner Trychle herzförmig rund und im Ton dumpfer und leiser, während die Innerschweizer Trychle länglicher und lauter sind. Und dann gibt es auch noch die Bissen, die keilförmig sind und mit ihren geraden Seiten ihren Ursprung in der Innerschweiz haben.
Eine ganze Tonfolge
Trychle sind der ganze Stolz vieler Älpler und werden deshalb in der Familie weitervererbt. So ist Pius Schmid eine Trychle bekannt, die aus dem Jahr 1722 stammt. Die dauernden Schläge der Kalle kann also eine gut geschmiedete Trychle nicht so schnell beschädigen. Da Trychle recht teuer in der Anschaffung sind, werden sie gerne zu speziellen Anlässen verschenkt. «Und dann gibt es die Leidenschaftlichen», erzählt Pius Schmid weiter, «die für ihre Herde eine ganze Tonfolge von Trychle anschaffen.» Anhand des Tones könne ein guter Älper so auch die Kuh von weitem identifizieren. Die verschiedenen Klangfarben der verschiedenen Herden seien übrigens auch der Grund, weshalb man die sieben Älperfamilien des Entlebucher Alpabzuges gestaffelt und mit einem grösseren zeitlichen Abstand ins Dorf einlaufen lasse. So könne man die einzelnen Geläute differenziert geniessen. Während der Alpabfahrt tragen die Tiere ihre Trychle am normalen Riemen. Für diesen Festanlass ist der Riemen zusätzlich mit einem Überwurfriemen, der reich bestickt ist, überdeckt. Am Rand ist der Überwurfriemen entweder mit farbigen Wollfäden oder mit Dachshaaren verziert. Die schönsten Kühe tragen zudem noch einen bestickten Nasenriemen. Beide werden vom Sattler auf einem Nährössli von Hand bestickt. Für ein Paar Überwurfriemen sticke er zwischen 25 bis 30 Stunden, erklärt Sattler Kurt Stalder. Oftmals werden die Nasenriemen zusätzlich noch bemalt.
Leute aus aller Herren Länder
Die alte Tradition der Alpabfahrt ist heute zu einem Volksfest geworden, das Geld generiert. Die zuschauen-den Menschen aus aller Herren Länder freuen sich in Schüpfheim zwar über die schön geschmückten Tiere. Gleichzeitig erkennen sie vor lauter Blumenschmuck die Gefahr nicht und drängen sich immer weiter in die Strasse und damit den schnell gehenden Kühen in den Weg. Einige Besucher hatten ihren gestressten Hund dabei und standen mit diesem an vorderster Front, dies vermutlich ohne zu wissen, dass die Begegnung zwischen Hund und Kuh durchaus Konfliktpotenzial birgt.