«Ein Fehltritt - und weg bist du»

«Ein Fehltritt - und weg bist du»
Ist seit 70 Jahren in den Bergen unterwegs und kennt etliche Gipfel: Seraphin Müller. / Bild: Bruno Zürcher (zue)
Sörenberg: Der routinierte Bergler Seraphin Müller rät, sich vor Wanderungen zu informieren, Risiken abzuschätzen und sich für Notfälle zu wappnen.

«Dass hier oben gleich so viel Schnee liegt, überrascht mich nun doch», meint Seraphin Müller und zieht sich eine Kappe an. Auf dem Pfad, der von der Bergstation der neuen Gondelbahn Richtung Chruterepass führt, herrschen winterliche Verhältnisse. Auf den ersten Metern wurde der Wanderweg vom Schnee befreit, aber schon bald stapfen wir durch eine 20 Zentimeter dicke Schneeschicht. Am Grat Richtung Schöngütsch hat der Wind beeindruckende «Wächten» aufgeschichtet. Bald ist klar: Weit kommen wir an diesem Tag nicht. Es wäre zu gefährlich.


Schönheit und Gefahr

Die Aussicht aber entschädigt für die verkürzte Wanderung. Über dem türkisfarbenen Brienzersee thronen die Berner Alpen. Seraphin Müller weiss zu zig Gipfeln etwas zu berichten, unternimmt er doch seit Jahrzehnten immer wieder Ausflüge in den Bergen als Kletterer wie auch als Wanderer. Noch heute im Alter von 85 Jahren ist er regelmässig unterwegs. «Es ist klar, dass ich nicht mehr so fit bin wie früher», meint er. «Aber ich kann mich an den kleinen Dingen erfreuen. Beispielsweise an dieser speziellen Stimmung. So etwas habe ich wohl noch nicht erlebt.» Die noch tief stehende Sonne lässt das Panorama mächtig erscheinen. Die Matten unten im Tal sind saftig grün – auf 2350 Metern über Meer herrschen hochalpine Verhältnisse. Dieser Gegensatz und die sehr klare Sicht wissen zu beeindrucken. Man kann sich kaum sattsehen. Noch wissen wir nicht, dass sich am Brienzergrat, der direkt vor uns liegt, am Sams-tag ein schlimmer Unfall ereignet hat: Ein 36-jähriger Chinese ist zwischen dem Wytlouwihoren und dem Blasenhubel «mehre-re hundert Meter in die Tiefe gestürzt», wie die Kantonspolizei Bern in einer Mitteilung schreibt. «Die Einsatzkräfte konnten in unwegsamem Gelände eine leblose Person lokalisieren. Vor Ort konnte nur noch der Tod des Verunglückten festgestellt werden.» Eine weitere Person, die mit dem Mann unterwegs war, sei unverletzt geblieben. Die beiden waren unweit des Augstmatthorns auf einem blau-weiss markierten Alpinweg unterwegs, nachdem in den Vortagen erster Schnee gefallen war.


Ausrüstung und Einschätzung

«Ich stelle immer mehr fest, dass die Leute zwar nicht schlecht ausgerüstet und eigentlich fit sind, aber die Gefahren nicht einschätzen können», sagt Seraphin Müller und deutet mit seinem Stock nach vorne. «Wenn wir hier noch weiter in die steile Flanke wandern, wirds gefährlich: Ein Fehltritt und du bist weg.» Viele Wanderer würden sich denken: Das ist ein markierter Wanderweg, der ist sicher, mir kann nichts passieren. «Dabei kann ich schon bei einer gelb markierten Wanderung ausrutschen und «überus gheie». Der erfahrene Bergler würde sich an manchen Stellen mehr Hinweise wie «Achtung: sehr ausgesetzt» wünschen. Den oft gebe es auf einer Bergwanderung nur ein, zwei heikle Stellen, welche nicht von vornherein ersichtlich seien. Wir kehren um und schreiten in Richtung Rothorn. Wir kreuzen zwei junge Frauen, die in  leichten Trekkingschuhen, die nicht über die Knöchel reichen, unterwegs sind. «Das ist ein Trend, den ich nicht so gerne sehe», meint Müller. So wie hier im Schnee halten hohe Schuhe nicht nur die Füsse trocken, sie geben auch Halt. Die beiden Frauen folgen den Spuren im Schnee, bis sie eine Stelle mit einer tollen Aussicht gefunden haben. Dann legt die eine den Rucksack ab und posiert für ein Foto, das ihre Kollegin schiesst. Kaum ist das Bild im Handy streben die beiden Frauen wieder Richtung Gondel. Von Osten ziehen erste Wolken auf. «Das Wetter kann sehr rasch umschlagen», nennt Seraphin Müller eine weitere Gefahr beim Wandern. Er habe immer zusätzliche Kleider und eine Pellerine dabei. «Notfalls könnte ich so auch eine Nacht draussen ausharren, wenn ich mich verlaufen hätte.» Auch eine Notfallapotheke habe er immer im Rucksack. Solchen Dingen würden heute viele Leute zu wenig Beachtung schenken, hat er die Erfahrung gemacht. Man verlässt sich darauf, dass man mit dem Handy Hilfe holen könne. «In meinen Anfängen», beginnt der 85-Jährige zu berichten, «sei das noch ganz anders gewesen.» Vor einer Hochtour hätten die Teilnehmer dem Bergführer die Biwaksäcke zeigen müssen, der diese im Stile eines Feldweibels kontrolliert habe. «Diese Säcke waren schwer und die Verlockung gross, sie nicht mitzunehmen», erzählt er. «Aber: In der Not können diese Säcke Leben retten.»


Vorsicht und Unvorsicht

Trotz aller Gefahren findet Seraphin Müller, dass Angst ein schlechter Begleiter ist und rezitiert den Bergsteiger Josef Dorn: «Ein tüchtiger Bergsteiger muss zwei Eigenschaften haben: Die Vorsicht und die Unvorsicht». Dieser Leitsatz lasse sich auch auf das Bergwandern übertragen. «Man muss sich etwas zutrauen, um schöne Dinge zu erleben, aber auch die Risiken abschätzen können.»

Mehr als hundert Todesfälle

3668 Personen sind im Jahr 2022 in den Schweizer Alpen in eine Notlage geraten (die Zahlen von 2023 hat der SAC noch nicht publiziert). Mehr als hundert Personen sind dabei tödlich verunfallt. Das sind zwar weniger als während der Corona-Jahre, als sich überdurchschnittlich viele Leute in die Berge aufmachten, aber immer noch viel. Rund die Hälfte der Bergnotfälle – bei denen Personen Hilfe von Rettungsdiensten beanspruchen mussten – wurden beim Bergwandern registriert. Die restlichen Unfälle ereignete sich bei Hochtouren, Skitouren, Mountainbiken, Variantenabfahrten, Gleitschirmfliegen oder weiteren Bergsportarten.

10.10.2024 :: Bruno Zürcher (zue)