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Einblicke in das Leben von einst

Einblicke in das Leben von einst
Der Autor des Buches, Fritz Jörg, im Chor der Kirche Sumiswald, wo einst auch die Richter sassen. / Bild: Bruno Zürcher (zue)
Sumiswald: Vor Chorgericht wurden Fälle aus dem Ort von Richtern aus dem Ort behandelt. Fritz Jörg hat die Protokolle der Jahre 1702 bis 1864 studiert – und Erstaunliches festgestellt.

«Wenn man sich frühere Jahrhunderte vorstellt, ist der Landvogt weit oben und das gemeine Volk ganz unten», beginnt Fritz Jörg zu erzählen. «Dieser Eindruck täuscht. Zumindest im Fall von Sumiswald, wie mir bei der Lektüre der Chorgerichtsmanuale klar wurde.» Die von der Obrigkeit in Bern entsandten Landvögte seien mehr konsensorientierte Verwalter gewesen, denn brutale Machthaber. «Das lag wohl auch daran, dass sich das Land kurze Zeit früher, im Bauernkrieg, gegen die Obrigkeit aufgelehnt hatte», berichtet der Autor des Buches «Aus dem Chorgericht von Sumiswald» weiter. Wie die Verhandlungen während des Bauernkriegs von 1653 vor dem Chorgericht in Sumiswald liefen, kann indes nicht mehr nachvollzogen werden (siehe Kasten). Erhalten sind aber die Protokolle ab 1702.


Worauf die Pfarrer Wert legten

Auch wenn die frühen Manuale verschollen sind, genug zu lesen hatte Fritz Jörg ohnehin. «Insgesamt umfassen die Unterlagen an die 1500 Seiten.» Um die Manuskripte zu transkribieren, wendete er mehrere tausend Stunden auf. Der jeweilige Pfarrer führte Protokoll und das natürlich in seiner Handschrift. «Und ich stellte auch fest, dass es nicht jeder gleich genau nahm, was die Vergehen anbelangt», sagt er. «Beispielsweise ist eine Zeit lang recht häufig von ‹allzufrühem Kindbett› zu lesen.» Dabei habe der Pfarrer nach der Geburt des ersten Kindes nachgerechnet, ob dieses sicher nach der Eheschliessung gezeugt worden sei. Anderen Pfarrern reichte es, wenn die Eltern des Kindes mittlerweile verheiratet waren. Fälle rund um Beziehungen zwischen Mann und Frau machen den grössten Teil der Chorgerichtsfälle aus. Beispielsweise musste, wenn eine Frau «plötzlich» schwanger war, der Vater ermittelt werden. «Dabei habe ich in den Manualen ein Vorgehen entdeckt, dass doch erstaunlich ist», erklärt Fritz Jörg. «Die werdende Mutter wurde oft direkt während der Geburt von zwei Chorrichtern befragt. Man glaubte wohl, dass die Frauen im Geburtsschmerz weniger in der Lage seien, zu lügen. Neues konnte bei diesen Befragungen aber fast nie erfahren werden.»


Mildere Strafen für die Frauen

Wie zeigt sich in den Protokollen die Rolle der Frauen – schliesslich sassen im Chor­gericht nur Männer? «Das gab es für mich auch zwei überraschende Erkenntnisse», sagt der 73-Jährige, der bis zu Pensionierung als Jurist tätig war. «Das Chorgericht packte die Frauen rücksichtsvoller an als die Männer – fast so, wie heute ein Jugendlicher
für dasselbe Vergehen auch eine mildere Strafe erhält als ein Erwachsener.» Und die zweite Erkenntnis? «Fast immer waren es die Frauen, welche Anklage erhoben. Etwa wenn ihnen ein Mann die Ehe versprochen hatte, sie bereits schwanger waren, aber der Kindsvater plötzlich nichts mehr von ihnen wissen wollte. Die Frauen brauchten sich also offenbar nicht vor den Chorrichtern, welche aus allen Teil von Sumiswald stammten, zu fürchten.»


Pragmatische Lösungen

Eine gewisse Autorität ging von den Chorrichtern aber wohl schon aus. Denn ganz häufig reichte – etwa bei Ehestreitigkeiten – eine Ermahnung. Weiter waren Geldbussen üblich, bei denen auf die finanziellen Verhältnisse Rücksicht genommen wurde. «Weil die Richter und der Pfarrer die Leute natürlich gut kannten, wussten sie, wenn Familien arm waren», sagt Fritz Jörg. «Es gab oft pragmatische Lösungen.» Zum Beispiel? Als mehrere «Hausväter» wegen Spielens verurteilt worden seien, leitete das Chorgericht die Bussen an die «Weiber» weiter, damit die Familien nicht gestraft waren. «Anders verhielten sich die Chorrichter, als der Wirt von Wasen eine Busse zu zahlen hatte», berichtet Fritz Jörg und lacht. «Sie gingen direkt nach der Sitzung in den ‹Bären›, und verprassten die eben eingenommene Busse bei der Konkurrenz.» Aus den hunderten von Verhandlungen hat Fritz Jörg überraschende, traurige, aber auch heitere Fälle ausgewählt, die er in seinem Buch kurz beleuchtet. Arbeitet er schon an einem neuen Projekt? «Wer weiss, man könnte in vielen Geschichten noch etwas in die Tiefe gehen.»

Das Sittengericht der Kirche

Im Alten Bern wurden die Chorgerichte mit der Reformation 1528 per Mandat eingesetzt. Es handelte sich um Sittengerichte, die als Nachfolger der bischöflichen Ehegerichte eingerichtet wurden. Die Protokolle des Chorgerichts Sumiswald sind «erst» ab 1702 erhalten. Die Bezeichnung Chorgericht ist entstanden, weil die Sitzungen oft im Chor der Kirchen durchgeführt wurden. Das Ziel habe gelautet, die fehlbaren Personen mit sanfter Gewalt wieder auf den christlichen Pfad zurückzubringen. Das Chorgericht der Stadt Bern war die Appellationsinstanz aller Chorgerichte und wurde daher zuweilen Oberchorgericht genannt. Die Chorgerichte tagten im Kanton Bern bis ins 19. Jahrhundert. 

Daneben gab es bereits im Alten Bern weltliche Gerichte, welche für die übrigen Vergehen zuständig waren.

21.11.2024 :: Bruno Zürcher (zue)