«Ich bin eben rational», sagte mir Edi, mein kritischer Freund, kürzlich. «Ich brauche keine Religion, um anständig zu leben.» «Ich bin auch rational», gab ich zur Antwort. «Aber die Religion hilft mir, mit den Widersprüchen der Vernunft fertig zu werden.» «Hä? Religion ist widersprüchlich, sicher nicht Vernunft, die ist logisch!», gab Edi zurück. «Was ist denn dein Prinzip, anständig zu leben?», wollte ich wissen. «Zum Beispiel, dass ich die anderen so behandle, wie ich von ihnen auch behandelt werden möchte.» «Das steht übrigens auch in der Bibel. Aber wer genau sind die anderen?», wollte ich wissen. «Meine Mitmenschen, ist doch logisch», sagte er. «Sind auch abgewiesene Asylbewerber deine Mitmenschen? Und Islamisten? Und die Kinder in den Kobaltminen des Kongo?» Edi schwieg. «Wir sind Menschen, aber eigentlich sind wir genetisch eng mit anderen Säugetieren verwandt, sagt die Vernunft. Wie sollen wir Katzen, Hunde und Kühe behandeln?» Edi kratzte sich am Kopf. «Dafür gibt es Gesetze. Ist doch klar, dass man Tiere anständig behandelt, aber doch nicht ganz wie Mitmenschen», gab er zur Antwort. «Noch vor 80 Jahren gab es Gesetze, die Juden, Schwarze und Homosexuelle im Namen der Vernunft diskriminierten», gab ich zurück. «O.K., das war sicher ein Fehler, aber daraus haben wir gelernt», meinte Edi. «Wenn ich die Welt anschaue, habe ich das Gefühl, wir hätten nicht viel daraus gelernt», entgegnete ich. «Die Vernunft ist keine Garantie für Gerechtigkeit, eher ein Werkzeug für den Erfolg. Um menschlich zu sein, braucht es Mitgefühl, und das ist häufig nicht rational, genau wie die Religion.» «Wenn man ein rationaler Mensch ist, heisst das nicht, dass man nicht auch Mitgefühl hat», verteidigte sich Edi. «Du sagst es: Mit Vernunft allein ist das Leben nur die Hälfte wert.»