Die 6. der sieben christlichen Tugenden kämpft ein wenig mit ihrer unzulänglichen Übersetzung. Auf Griechisch beschreibt die «Sofrosyne» jenen Raum, den Aristoteles in der Mitte zwischen den beiden Extremen Stumpfheit und Zügellosigkeit angesiedelt hat. Mal wird sie als ‹Vernünftigkeit› bezeichnet, mal als ‹Selbstbeherrschung› oder ‹Mässigung›. Im Neuen Testament kommt der Begriff nur gerade viermal vor. Paulus verwendet ihn beispielsweise als ‹Besonnenheit› bei seinem Bild vom einen Leib mit den vielen Gliedern. Hildegard von Bingen hat die «Sofrosyne» als das ‹rechte Mass› definiert und adelte sie zur Mutter aller Tugenden. Im Apollotempel zu Delphi war auch die Losung eingemeisselt «Nichts zu sehr» und zielt damit in die gleiche Richtung wie die Obgenannten. Böse Zungen könnten freilich anmerken, dass in der Mitte zwischen zwei Extremen oder in der Abtempiertheit aller Emotionen höchstens beklagenswertes Mittelmass zu finden sei. Doch damit würde meines Erachtens die Besonnenheit unter ihrem Wert geschlagen. Sie scheint vielmehr die eigentliche Trimmung der übrigen Tugenden zu sein und hält damit das Ganze erfolgreich auf Flughöhe. Denn gerade die drei Kardinaltugenden Tapferkeit, Gerechtigkeit oder Klugheit können in übersteigerter Form und ohne wechselseitiges Korrektiv leicht zu wertlosen Zerrbildern ihrer selbst werden. Fun Fact: Wussten Sie, dass Ronja auch als Kurzform des griechischen Namens Sophronia vergeben werden kann? Gemäss Astrid Lindgren stand ihrer Ronja Räubertochter jedoch
ein See in Nordschweden als Namenspate zur Seite. Wie auch immer. Ronja agiert mit Vernunft und Besonnenheit, in dem sie sich dem Dauerkonflikt der Räuberbanden entzieht; sie ist um Ausgleich bedacht und erkämpft sich so eine lebenswerte Zukunft und zwar nicht nur für sich. Ronja ist dabei alles andere als mittelmässig oder blutleer. Ein wunderbares Buch. Nicht nur für Kinder!